Rom:Die vom Ball Beseelte

Lesezeit: 8 min

Sie ist die berühmteste Ordensfrau Italiens: Unter der Schwesterntracht trägt die Nonne Suor Paola den Lazio-Schal - und darunter ein großes Herz.

Birgit Schönau

Die Neue haben sie an einer Tiberbrücke zu Füßen des Olympiastadions aufgegabelt. Sie hat ein dreijähriges Kind bei sich, Nationalität noch unbekannt, Albanerin vielleicht oder Rumänin, jedenfalls Südosteuropa.

Hat den Fußballplatz für die Heimkinder finanziert: Damiano Tommasi vom AS Rom. (Foto: Foto: Reuters)

Man könnte die Frau ohne Papiere, ohne Aufenthaltsgenehmigung sowieso, in Untersuchungshaft bringen - aber die römische Polizei wählt die Handynummer einer Nonne. "Sie werden mir von der Stadt Rom geschickt, von den Gerichten oder von der Polizei", sagt Suor Paola.

Junge Frauen aus aller Welt, "alle mit einer schrecklichen Geschichte dahinter", alle mit Kindern, gefallene Mädchen hätte man früher gesagt, nicht nur in kirchlichen Kreisen. Wenn sie zu Suor Paola kommen, haben viele zum ersten Mal in ihrem Leben Glück gehabt.

Glück bedeutet nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern ein eigenes Zimmer, zwei warme Mahlzeiten pro Tag, vielleicht sogar einen Job und Betreuung für die Kinder.

Das alles tief im Westen Roms, wo die Metropole sich zur Campagna Romana auswächst, mit Gärten, Schafherden und wilden Müllkippen. Ein steiler Weg führt von der Via della Casetta Mattei zum Villaggio Sospe. Die Abkürzung steht für Solidarietà e Speranza, Solidarität und Hoffnung.

Es ist Paolas Haus, dieses Heim für zehn Frauen und ihre 22 Kinder. Man sieht es am Eingang, wo Paola einen Spruch anbringen ließ: "Gott liebt, wer mit Freuden gibt." Und am Fußballplatz, der so schön gepflegt und grün ist wie nur ganz wenige Plätze in Rom.

Ein Fußballplatz für die Kinder, das musste sein. Denn das Leben dieser rundlichen Nonne mit dem dichten grauen, leicht widerspenstigen Haar unter der Haube, den hellen Augen, von denen das rechte so wach blitzt, als wolle es auch für das trübe linke das Gegenüber durchdringen, das Leben von Suor Paola, die einen Terminkalender abarbeitet wie ein Manager und doch dieses weiche, leicht entrückte Lächeln hat, das nur Ordensfrauen lächeln können, dreht sich um Gott - und um den Fußball.

Göttlicher Blitzstrahl

Das war schon so, als sie noch als Rita D'Auria in Roccella Jonica heranwuchs, drittes Kind einer armen Familie in Kalabrien, damals wie heute Lichtjahre entfernt von Rom. Der Vater zog mit einem Lebensmittelkarren über Land, die Mutter arbeitete als Postangestellte, in der Familie gab es sechs Kinder.

Es war der verzweifelt arme Süden Nachkriegsitaliens, in den Rita 1947 geboren wurde - in ein Kaff, in dem die Kinder keine Schuhe trugen und aus dem später viele auf der Suche nach Arbeit in Richtung Norden emigrierten. Unter ihnen auch einer von Ritas Brüdern, der zehn Jahre lang als Gastarbeiter in Stuttgart lebte.

Die erste Begegnung mit einem Ball beeindruckte Suor Paola wie ihren Namenspatron der göttliche Blitzstrahl auf der Straße nach Damaskus. Sie war vielleicht vier Jahre alt. "Wir gingen vom Bahnhof nach Hause und auf einmal traf mich ein Fußball so hart, dass ich zu Boden ging. Ich blieb ganz verwirrt sitzen, den Ball in meinen Armen. Ich war ganz konfus, fühlte mich aber sofort von dieser magischen Kugel angezogen, mit der ich unfreiwillig in Körperkontakt getreten war. Ich drückte sie an mich. Zum ersten Mal fasste ich einen Fußball an, einen staubigen Ball, mit dem unverwechselbaren Geruch nach Tierfett, mit dem das Leder eingerieben worden war."

Rita spielte fortan Fußball mit den Jungen in ihrem Dorf. Gott kam erst später. Als sie sieben Jahre alt war, brachte die energische Mutter sie in ein Nonneninternat nach Rom. Das Kind sollte studieren, sollte es zu etwas bringen. Und dabei Schuhe tragen.

Lange Jahre kam Rita nur noch in den Sommerferien nach Kalabrien, spielte Fußball, schwamm im Meer. Mit 20 nahm sie den Schleier. Die Mutter war außer sich. Sie schleifte die Tochter vor Gericht, und als die auf ihrer Entscheidung bestand, sprach sie lange Jahre kein Wort mehr mit Suor Paola.

"Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ich wirklich Nonne werden wollte, denn ich hatte ja meine ganze Kindheit hindurch mit Jungen gespielt. In ihren Augen war ich selbst ein halber Junge. Und nun das."

Als Klosterfrau machte Suor Paola zwei Hochschulabschlüsse in Theologie und Psychologie. Sie war jetzt eine Dottoressa, wie Akademikerinnen in Italien rundweg genannt werden, und die Frau Doktor spielte selbstverständlich weiter Fußball.

"Das kann kein Zufall sein"

Das Kloster der Franziskanerinnen liegt an den Hängen hinter dem Olympiastadion. "Das kann ja", lacht sie, "kein Zufall sein." Früh erkannte sie, wie der Fußball die Kinder faszinieren konnte, "damit die von der Straße wegkamen". Sie kickte mit ihren Schülern, denn Suor Paola unterrichtet bis heute jeden Morgen in der Ordensschule.

Sie spielte aber auch mit den Kindern aus der Nachbarschaft der rasch wuchernden römischen Peripherie. "Die kamen nachmittags die Via dei Colli della Farnesina zum Kloster hinaufgelaufen. Das Fußballspiel mit mir, die Stunden, die wir zusammen verbrachten, wurden der Mittelpunkt ihrer Tage."

Die Nonne brachte die Kinder zu einem nahe gelegenen Platz - innerhalb des Klosters gab es kein Fußballfeld. "Man muss sich das vorstellen - Fußball in einem Nonnenkloster. Priester, die den Jungen das Kicken beibringen, daran war man ja gewöhnt, aber eine Nonne ... Bald war ich im ganzen Viertel bekannt."

Das Staatsfernsehen RAI brachte, es waren die siebziger Jahre, einen Bericht über die kickende Schwester, "danach konnte ich mich vor Anfragen von Eltern nicht retten, die ihre Kinder zu mir schicken wollten."

Drei Zöglinge von Suor Paola sind später in der Serie A gelandet, zuletzt der Torwart Valerio Fiori, der nach Lazio Rom, Cagliari und dem AC Florenz beim AC Mailand anheuerte. Auch Suor Paola landete bei Lazio Rom.

"Auf der Suche nach Trikots und Bällen für die Kinder habe ich zuerst beim AS Rom angeklopft, das war ja der größere und bekanntere Klub in der Stadt, mit dem meisten Anhang. Aber bei der Roma sagten sie nur, wir sind kein Wohltätigkeitsverein und knallten mir die Tür vor der Nase zu. Da nahm ich die Kinder und ging zu Lazio."

Zehn Jahre Fernsehen

Die Nonne und ihre Mannschaft trafen ein, als die Profis gerade trainierten. Die Kinder stürmten den Platz, "aber anstatt uns hinauszuwerfen, gaben sie uns alles, was wir brauchten." Seither ist die Schwester glühender Lazio-Fan, den theologischen Überbau dafür zu finden, fiel ihr nicht schwer: "Lazio, das war immer die Mannschaft der Underdogs, der Benachteiligten, derjenigen, die es schwerer hatten im Leben. Und für die habe ich sowieso starke Sympathie."

Sie wurde der prominenteste Fan des Klubs. Der populäre Torjäger und Nationalspieler Beppe Signori sagte über sie: "Diese Frau wünschte ich mir bei einer Attacke immer an meiner Seite."

Aus Liebe zu Lazio geht Suor Paola bis heute ins Stadion. "Nur die Abendspiele schaffe ich nicht mehr, die Kälte zieht mir in die Knochen." Aus Liebe zu Lazio ging sie auch ins Fernsehen, zehn Jahre lang. Suor Paola wurde Fußballkommentatorin der RAI.

Sie saß für die Sendung Quelli che il calcio ("Die vom Fußball") jeden Sonntag auf der Tribüne, mit einem Lazio-Schal über der Schwesterntracht, und wenn Lazio ein Tor machte, jubelte sie und küsste ihre Platznachbarn.

Bald war die Fußballnonne die bekannteste Ordensfrau Italiens. Die Romanisti schmähten sie auf Spruchbändern, der Papst empfing sie zur Audienz, manche reagierten auch sehr verschnupft und sagten, eine Nonne gehöre ins Kloster und nicht ins Stadion.

Der Fußball und die Religion, das seien zwei paar Schuhe, vor allem für eine Schwester, die doch dienen und dabei gehorsam sein solle, am besten so wie früher - in Klausur.

Der Engel ist fußballverrückt

"Alles weltfremdes Geschwätz", sagt Paola. "Wer so etwas von sich gibt, kann sich nicht vorstellen, dass ich gerade über den Fußball Menschen den Weg zur Religion weisen konnte, die ich sonst niemals erreicht hätte.

Wenn man in Italien mit jemandem über Fußball spricht, ist man bald bei ganz anderen, persönlichen Themen." Paola, die vom Ball Beseelte, hatte außerdem schnell erkannt, dass man mit dem Fußball konkret helfen kann.

Sie gründete die Mannschaft Ragazzi di Suor Paola ("Schwester Paolas Kinder"), die in unzähligen Wohltätigkeitsspielen angeführt von der fernsehbekannten Lazio-Nonne eine Menge Geld für Hilfsprojekte erspielten.

Ihre Kontakte zu Fußballprofis und Managern ermöglichten ihr schließlich, 2002 das Mutter-Kind-Heim zu eröffnen, ohne einen Cent staatlicher Zuschüsse. 2006 soll ein zweites "Villaggio" folgen, die Plätze werden dringend gebraucht.

Suor Paolas Organisation sorgt dafür, dass die Kinder zur Schule gehen und in die Kindergärten. Staatliche Schulen wohlgemerkt, nicht die kirchlichen, von denen es in Rom immer noch sehr viele gibt. Aber die katholischen Erziehungsanstalten sind teuer.

Tagsüber bleiben im Heim die ganz Kleinen wie die einjährige Christina aus Rumänien, der zweijährige Giovanni aus Ghana, die beiden Helferinnen und die Mütter, die keine Arbeit gefunden haben.

Die Helferin Giovanna aus Kalabrien versucht in dem Getümmel, Weihnachtssterne aus Papier zu basteln, aber bald legt sie die Schere weg, weil eines der kleinen Kinder sein Spielzeugauto zerdeppert hat und heult.

Die Helferin Francesca hat eine rote Nase und Fieber. Sie kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Rom, leitete dort einen Supermarkt, bis ihr im Sommer eine private Tragödie widerfuhr. "Mir ging es so schlecht, dass ich einfach nur weg wollte. Da habe ich Suor Paola eine SMS geschickt."

Die Nonne rief die junge Frau sofort zurück. "Sie hat gesagt: Komm zu uns, hier kommst du schnell auf andere Gedanken."

Mit 28 Jahren fängt Francesca jetzt noch einmal von vorn an - als Betreuerin bei Sospe, mit Zwölf-Stunden-Schichten, Zimmer im Haus und einem freien Tag pro Woche. Unter den Fittichen der Nonne, die Francesca für ihren Schutzengel hält.

Der Schutzengel ist fußballverrückt wie sie selbst. "Ich bin glühender Lazio-Fan und lese seit meiner Kindheit Lazialità, das offizielle Fanzine des Klubs. Dort hatte Suor Paola eine Kolumne. Einmal habe ich ihr einen Leserbrief geschrieben, sie hat mir geantwortet, und wir haben uns getroffen. Seither unternehme ich jedes Jahr mit ihr eine Pilgerfahrt nach Assisi." Paola, die Menschenfängerin mit dem Fußball, hatte wieder mal getroffen.

Kommen und Gehen im Knast

Ihre Offenheit, ihre ungebrochene Neugier auf Menschen haben Suor Paola, Tante von 14 Nichten und Neffen, ins Rampenlicht gebracht - und ihr eine eigene Familie beschert. Die Kinder im Heim nennen sie nicht Schwester, sondern "Nonna". Das heißt Großmutter.

Am späten Nachmittag kommt Nonna Paola von ihrer Arbeit nach Hause. Morgens unterrichtet sie in der Ordensschule, nachmittags besucht sie Häftlinge im Gefängnis Regina Coeli, wo auch der frühere Lazio-Patron Sergio Cragnotti ein paar Wochen verbracht hat, Untersuchungshaft wegen des Verdachts auf betrügerischen Bankrott.

"Und jede Menge Ultras treffe ich da auch, die kommen und gehen aus dem Knast." Abends isst Suor Paola dann mit ihren Schützlingen, wünscht jedem eine gute Nacht und zieht sich in ihr Büro zurück. Das ist weiß-blau. Die Farben Lazios.

"Die Farben des Himmels", präzisiert Paola, die Theologin. Über einem Stuhl hängt ein Lazio-Trikot mit ihrem Namen. Auf dem Schreibtisch, an den Wänden Fotos mit Spielern und Trainern, auf einem Schrank unzählige Pokale.

Auch die "Irriducibili", die rechtsgerichteten Lazio-Ultras, haben Paolas wohltätige Projekte unterstützt, aber die Nonne geht auf Distanz: "Es ist schlimm, wie die Politik in das Stadion getragen wird, und die Tifosi den Fußball instrumentalisieren." Im Großmutteralter kann sich Paola, die doch ihr ganzes Leben mit dem Fußball verbracht hat, kaum noch wiedererkennen in dem, was in ihrem Klub und ihrem Stadion geschieht. "Der Abbruch des Derbys 2004 durch extremistische Tifosi war ein Tiefpunkt."

Nicht Lazio-Spieler, sondern Damiano Tommasi vom AS Rom hat den Fußballplatz für die Heimkinder finanziert. Fotos von Tommasi hängen überall, sie zeigen ihn mit Paolas Zöglingen oder mit den eigenen Kindern.

Tommasi ist ein überaus engagierter Profi - er hat Wohltätigkeitsspiele organisiert, Aufrufe gegen Rassismus und Krieg initiiert und unterstützt, mehrfach die Auswüchse des italienischen Calcio beklagt, zu denen seiner Meinung nach auch die überzogenen Spielergagen gehören.

Sein Kapitän Francesco Totti beispielsweise ist mit sechs Millionen Euro Jahresnettogehalt einer der Großverdiener der Branche. Tommasi selbst verdient in diesem Jahr 18.000 Euro. In Italien gibt es einen Fußballer-Tarifvertrag, der das Mindestgehalt eines Profis auf 1500 Euro im Monat taxiert. Kein Spieler der Serie A wird nach Tarif bezahlt, nur Tommasi.

Er hat das akzeptiert, damit er noch ein Jährchen Fußball spielen darf. Gegen den AC Florenz hat er kürzlich ein entscheidendes Tor gemacht - zum Nulltarif.

Suor Paola vergöttert Tommasi. Naja, einerseits. "Ich rufe ihn vor jedem Match an und sage: Ich drücke dir die Daumen, spiele und mache ein Tor." Andererseits: "Dann schiebe ich hinterher: Und vergiss nicht zu verlieren. Wenn die Roma nicht verliert, bin ich nicht zufrieden."

Es gibt Grenzen der Nächstenliebe. Auf dem Schreibtisch von Suor Paola steht eine kitschige Lazio-Devotionalie in weiß-blauer Keramik. Die zehn Gebote des Laziale sind darauf eingebrannt. Eines heißt: "Du sollst keinen anderen Glauben haben als Lazio." Suor Paola schüttelt sich vor Lachen. Und dann sagt die kleine runde Nonne nur: "Was hast du denn gedacht?"

© SZ vom 24.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: