Rocchigianis Autobiografie:Der Straßenjunge

Lesezeit: 4 min

In seiner Autobiographie inszeniert sich Boxer Graciano Rocchigiani als harter Kerl: mit Gewaltausbrüchen, dem zehnten Bierchen und "ein paar Weibern".

Lars Spannagel

Am 11. März 1988 ist Graciano Rocchigiani ganz oben. Durch einen Technischen K. o. gegen Vincent Boulware wird der Berliner als erst dritter Deutscher zum Profi-Boxweltmeister. Sein erster Gedanke danach: "Was ich mir Leckeres hinter die Kiemen drücken beziehungsweise wann ich mir endlich ein schönes Bierchen herunterspülen kann." Als er allerdings zu seinem Siegerbüffet eintrifft, ist es schon leergeräumt. Deshalb holt sich Rocchigiani mit seinen Kumpels an einer Tankstelle "noch ein paar Sixpacks, eine Flasche Bacardi und die dazugehörige Pulle Coca-Cola".

"Das zischt vielleicht; drei, vier Züge und schon ist es verdampft." Graciano Rocchigiani über den Biergenuss. (Foto: Foto: ddp)

Triumphe und Exzesse, Millionengagen und Gefängnisaufenthalte wechseln sich ab in Rocchigianis Karriere. Jetzt ist der 43-Jährige nach neun Monaten in den Justizvollzugsanstalten von Bielefeld-Senne und Moers-Kapellen wieder draußen, und auf dem Weg nach oben - zumindest in den Bestsellerlisten. Seine Autobiographie "Rocky - meine 15 Runden" verkauft sich hervorragend. Rocchigiani würde vielleicht sagen, sie verkauft sich "wie Hulle" oder "wie Sau".

Auf 368 Seiten und in 15 Kapiteln wie "Meine Kämpfe", "Meine Gegner", "Meine Frauen" oder "Meine Skandale" lässt Rocchigiani den Leser an seinem bewegten Leben teilhaben. Auch wenn er mit großer Offenheit berichtet, so richtig schlau wird man nicht aus der Lektüre: Es ist einfach kaum zu begreifen, wie sich jemand so oft selbst ein Bein stellen kann. Er scheitert wieder und wieder: an Box-Intrigen, am Alkohol, an der Justiz, an sich selbst.

Unvergessliche Schlichtheit

Sympathisch ist, dass es ihm egal ist, wenn ihn die meisten Leute unsympathisch finden. Er selbst erinnert im Buch an Sätze von unvergesslicher Schlichtheit. 1989 sagte Rocchigiani im Spiegel: "Was braucht der Mensch außer Glotze gucken, 'n bisschen bumsen, 'n bisschen Anerkennung?"

Seine größte Zeit erlebt Rocchigiani im West-Berlin der achtziger und neunziger Jahre - einer Welt, in der das "Big Eden", Eberhard Diepgen und der BSC Preussen feste Größen sind, und die spätestens zusammen mit Harald Juhnke gestorben ist. Rocchigianis Leben spielt sich zwischen Trainingshallen, Boxringen und Lokalitäten ab, die "Blue Velvet", "Annabelle's" oder "Evas Inn" heißen. Politiker ("Politfuzzis") mag Rocchigiani nicht, Frauen ("Weiber", "Beute", "Tussis" oder "süße Mäuschen") dagegen sehr.

"Ich bin doof"

Auch wenn er der Meinung ist, Frauen gehörten "an den Kochtopf und ins Bett, nicht in einen Boxring", beschreibt er im Buch voller Stolz, wie auch seine Freundin Auseinandersetzungen auf die Rocchigiani-Art beendet: "Mit einer wunderbaren Kombination, aus der Deckung geschlagen, schickt meine Kleine die Angreiferin zu Boden. Einmal kurz nachgesetzt und die Sache ist erledigt. Ich sitze immer noch auf meinem Barhocker und staune. Respekt!"

Bei der Lektüre verliert man leicht den Überblick, wie vielen Leuten Rocchigiani außerhalb des Rings eins auf die Nase gegeben hat. Zeit seines Lebens hat er mit sich selbst zu kämpfen. Gerade noch wird er Weltmeister, schon liegt er dauerkiffend auf der Couch und ist zu faul, um überhaupt noch einen Fuß vor die Tür zu setzen. Im Vollsuff lässt er sich auf Schlägereien ein, zerlegt Hotelzimmer und wird alkoholisiert beim Autofahren erwischt.

Gerne stilisiert sich Graciano Rocchigiani in seiner Lebensrückschau als der harte Kerl von der Straße, der zur Not die Fäuste sprechen lässt und dabei nur wenig Unrechtsbewusstsein zeigt. Das gehört dazu in seiner Welt, am besten ohne Presse, ohne Bullen, nur der archaische Kampf zählt.

Graciano "Rocky" Rocchigiani: ROCKY - MEINE 15 RUNDEN: DIE AUTOBIOGRAPHIE. Mit Ralf Grengel und René Hiepen. 19,90 Euro, ISBN 978-3-89602-777-1. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin. (Foto: Foto: Hauth)

Hin und wieder wenigstens zeigt Rocchigiani Reue. Als er auf einer Polizeiwache nach einer Alkoholfahrt eine Schriftprobe abgeben soll, schreibt er schlicht: "Ich bin doof." Als junger Profi zerboxt er bei einem Wutanfall - an den Grund kann er sich nicht mehr erinnern - eine Vitrine und zerschneidet sich dabei sein wichtigstes Arbeitsgerät - seine Hand. Weil er "voll wie ein Eimer" ist, muss er sechs Stunden auf die Operation warten und hat Glück, seine Karriere nicht beenden zu müssen. "Wie kannst du nur so dämlich sein?" fragt er sich. Nicht zum letzten Mal.

Doch ein Bierchen hier, zehn Bierchen dort und schon hat Rocky wieder Ärger. Mit Taxifahrern, Polizisten oder Kneipengästen. Immer muss er kämpfen, um sich schlagen, austeilen. Dabei feiert er doch so gerne. Mit Stefan Effenberg ("trinkfest"), Boris Becker ("war fasziniert von dem Blick in eine exzessive Welt") oder Kumpels aus der Berliner Boxszene. Rocchigianis Lieblingsbezeichnung für Leute, die er schätzt: "Einer aus dem Leben." Mit solchen Leuten schmeckt das Bierchen: "Das zischt vielleicht; drei, vier Züge und schon ist es verdampft." Leider entpuppen sich seine Freunde und Geschäftspartner immer wieder als schlechter Umgang. Aber was will man erwarten, wenn man mit Leuten auf Kiff-Urlaub nach Rimini fährt, die "ein paar Weiber laufen" haben? Rocchigiani findet sich unter Verdacht des Menschenhandels im Gefängnis wieder, wird später freigesprochen.

"Der Wessi haut dem Ossi auf die Schnauze"

Seine größten Kämpfe im Ring kann er nicht gewinnen, darf er nicht gewinnen. Gegen Henry Maske und Dariusz Michalczewski hätte er - nicht nur nach seiner eigenen Meinung - WM-Titel verdient gehabt, in den größten Schlachten der jüngeren deutschen Boxgeschichte wird er aber durch zweifelhafte Entscheidungen der Ring- oder Punktrichter um den Erfolg gebracht. "Beschiss mit System" nennt Rocchigiani das.

Immerhin wusste er, wie er sich in den öffentlichen Blickpunkt bringen kann, seine Sprüche waren schon immer eine Freude für die Boulevardpresse: "Es geht um den Kampf Ost gegen West", sagt Rocchigiani vor dem ersten Kampf gegen Maske, "der Wessi haut dem Ossi auf die Schnauze, der Ossi haut dem Wessi auf die Schnauze."

Die Einschaltquoten am Kampfabend sind ein Traum für RTL. Den Rückkampf ruft der Sender zur "Frage der Ehre" aus, 17,6 Millionen Fernsehzuschauer - fast ein Viertel aller Deutschen - sieht zu. Zu einem Kampf gegen Michalczewski müssen zusätzliche Tribünen am Hamburger Millerntor aufgestellt werden, 25.000 Zuschauer sehen, wie der Berliner nach einhelliger Expertenmeinung verschaukelt wird.

Auf seine alten Tage wird Rocchigiani noch einmal gegen Michalczewski antreten, am 24. Mai 2008. Er werde ihm eins "richtig auf die Fresse geben", hat der Berliner bei der Vorstellung seines Buchs angekündigt. Rocchigiani gibt freimütig zu, dass es ihm ums Geld geht. Denn er hat keine überzeugende Antwort auf die Frage, die sich auch dem Leser stellt: "Wo ist eigentlich die ganze Kohle geblieben?" Acht Millionen Euro hat er verdient, viel scheint nicht übrig zu sein.

Am Schluss des Buches wendet sich Rocchigiani noch einmal direkt an seine Leser: "Jeder von Ihnen, egal ob er mich mag oder mich am liebsten zum Teufel wünschen würde, sollte nie vergessen: Ick hab immer jerne für Sie jeboxt." Es war schwer wegzugucken. Wie bei einem Autounfall.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: