Rhytmische Sportgymnastik:Koch und neue Sprache

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Blaue Flecken: Bei der Siegerehrung ist oft zu sehen, welch körperlichen Einsatz die Gymnastinnen bringen - es sei denn, sie tragen Strumpfhosen. (Foto: Getty Images for BEGOC)

Mehr Kommunikation, mehr Betreuung: Nach dem Eklat hat sich vieles verbessert - doch der spezielle internationale Erfolgdruck bleibt weiterhin ein Problem.

Von Volker Kreisl, München

Die Zeit des schnellen Wurstbrötchens ist vorüber. Das Nationalteam der Rhythmischen Sportgymnastik (RSG) muss jetzt nicht mehr mittags über die Straße zum Metzger laufen. Wenn die jungen Gymnastinnen am Bundesstützpunkt Fellbach-Schmiden bei Stuttgart heute Heißhunger bekommen, dann gibt es einen Koch. Der bereitet ein Essen für Athleten zu. Für Sportlerinnen, die noch im Wachstum stecken, ungeheure Energie verbrauchen, Hungerschübe bekommen, aber schmal und biegsam bleiben müssen.

Die Sache mit dem Wurstbrötchen ist ein Detail, aber es führt zum Gesamt- problem. Die RSG ist kompliziert und verlangt 35 Stunden Training die Woche, die Athletinnen sind fragil, die Trainerinnen ehrgeizig. Werden die Beteiligten mehr oder weniger sich selber überlassen, dann kann das System außer Kontrolle geraten. Im Frühsommer 2014 hatte die damals 16-jährige Gymnastin Katerina Luschik Anzeige erstattet wegen Körperverletzung, Beleidigung, Nötigung und unrechtmäßiger Medikamentenvergabe. Sie sei immer wieder beschimpft worden, unter anderem als "fette Sau". Die Beschuldigten streiten dies ab.

Ein Jahr später ist vieles neu in Fellbach-Schmiden. In der Sache Luschik ermitteln weiterhin die Behörden, unabhängig davon kämpft der Deutsche Turnerbund um Zukunft und Ruf seiner Gymnastik-Abteilung. Trainer wurden entlassen, viel neues Personal eingestellt und ein Programm mit 14 Punkten aufgelegt. Die Chefs haben den Rahmen für einen menschlichen Trainingsalltag geschaffen. Und doch bleibt abzuwarten, ob das zum Erfolg führt.

Vielleicht liegt es am Namen. Rhythmische Sportgymnastik - das hört sich so harmlos an, so nach Neigungsgruppe. Es handelt sich aber nicht um ein bisschen Tanzen mit Flatterband oder Ball, es geht darum, alles gleichzeitig zu beherrschen: Zum Beispiel den Ball auf eine bestimmte Wurfkurve zu schicken, während des Fluges einen Sprung oder einen Spagat oder eine dreifache Pirouette oder all das auf einmal auszuführen, den Ball zu fangen, mit den Händen oder mit den Knien, im Takt der Musik, immer lächelnd, immer flüssig in die nächste Übung weiter gleitend. "Die RSG ist so attraktiv", sagt die neue Cheftrainerin Katja Kleinveldt, "weil sie alles vereint: Ausdauer, Explosivkraft, Beweglichkeit, Koordination, Rhythmus, Präzision, Musikalität, Ausdruckskraft." Kleinveldt glaubt, mit den neuen Verantwortlichen und einem neuen Denken, zum Beispiel einer neuen Sprache, erreiche der Sport auch in Deutschland höchstes Niveau.

Bei der WM in Stuttgart geht es im September um Olympia

Die Sprache ist auch so ein Detail wie das Wurstbrötchen. Scheinbar eine Nebensache, und doch hängt das große Ganze daran. Denn wenn deutsche Gymnastinnen im Prinzip vieles beherrschen, Russisch beherrschen sie nicht. Das ist gewissermaßen die Sprache der Sportgymnastik, und aus der ehemaligen Sowjetunion, wo die Weltspitze ansässig ist, stammen auch viele DTB-Trainerinnen. Die deutsche Turnhallensprache ist üblicherweise Deutsch, so war das auch früher. Doch wenn die Leistungen nicht stimmten, wenn die Gymnastinnen nicht aufpassten, dann, so berichtet es Luschik und so sagen es andere, die nicht genannt werden wollen, wurde auf Russisch weiter gecoacht und irgendwann gebrüllt und geflucht. Und weil junge Gymnastinnen in so einem Fall erst recht nichts verstehen, sind sie oft blockiert.

Die Ansprache und auch vieles andere hatte offenbar derart wenig mit sinnvoller Pädagogik zu tun, dass die neuen Manager in Fellbach-Schmiden bei den ganz einfachen Grundsätzen anfangen mussten. Das Körpergewicht wird nicht mehr ständig gewogen und manchmal bestraft, wie es Luschik erlebt hatte. Stattdessen wird gute Ernährung gefördert - und die Sprache, sagt der neue Standortmanager Michael Breuning, "die Sprache ist Deutsch".

Überhaupt soll miteinander gesprochen werden. "Wir wollen eine bessere Kommunikationskultur", sagt Kleinveldt. Sie war früher selber Sportgymnastin, ist Medizinerin und hat 15 Jahre lang als Trainerin, unter anderem in Japan und Südafrika gearbeitet. "Es darf nicht sein, dass etwas passiert und jemand macht Augen und Ohren zu", sagt sie.

Ein Psychologe und eine Ombudsfrau arbeiten nun mit, eine Assistentin hilft bei der Standortorganisation, und der Trainerstab wurde neu aufgestellt. Verantwortlich für die Einzelgymnastinnen ist nun Natalia Raskina und für die Juniorinnen Yuliya Raskina, ihre Tochter. Die Raskinas sind Russinnen, weshalb sie ein hervorragendes trainingsmethodisches Wissen haben, aber erst nach und nach Deutsch lernen. Auf Englisch gehe es aber auch, sagt Kleinveldt, "würde jemand ins Russische verfallen, dann wird das geregelt, würde jemand laut werden, dann schreiten wir sofort ein".

Es kommt auch da auf den genauen Ton an. Laut werde sie auch manchmal, sagt die Hallenser RSG-Trainerin Claudia Marx. Mit Luschik hatten drei ihrer Schülerinnen 2014 Fellbach-Schmiden verlassen. Sie sind zurück nach Halle an der Saale gegangen. Die Zeit danach war nicht einfach, sagt Marx, aber sie blickt jetzt nach vorne. Laut kann es eben werden, wenn von Schülerinnen höchste Disziplin verlangt wird, doch "entscheidend ist, dass das Kind den Respekt spürt", sagt Marx, sie wolle selbstbestimmte Sportlerinnen. Und weil in Fellbach-Schmiden die neuen Trainer, Manager und Pädagogen dies ja auch alle wollen, ist Marx zuversichtlich: "Die Situation hat sich im Nationalmannschaftszentrum sicherlich für alle verbessert", sagt sie.

Doch trotz Entspannung bleibt der konstante Druck aus dem Hintergrund: Auf der einen Seite sind da die Top-Nationen aus den Ex-Sowjetstaaten, die stets die Podeste besetzen - auf der anderen verlangt der eigene Dachverband Medaillen. Die Lösung sind Expertinnen aus den Top-Nationen, die aber oft eher sportlich als pädagogisch top sind. Und dann ist da noch die WM im September. Sie findet in Stuttgart statt und könnte die DTB-Gymnastinnen mächtig befeuern - aber auch zum Zittern bringen, wenn der Ball präzise gefangen werden muss. Denn es geht um die Olympiaqualifikation, also wieder um alles.

Es ist diese Nervenanspannung, die oft zu Exzessen führt. Die vielen neuen Mitarbeiter müssen also wachsam bleiben. Auch wenn die Details gelöst sind, bleibt das große Ganze ein Problem in dem Sport, der alles vereint.

© SZ vom 25.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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