Rekonstruktion des Abends:Stadion als Festung

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Einiges deutet darauf hin, dass die Attentäter noch Schlimmeres geplant hatten. Aber sie scheiterten an den Eingängen des Stade de France.

Von Claudio Catuogno, Paris

Wie es dazu kam, dass kurz nach dem Spiel mehrere Tausend Besucher, die den Innenraum eigentlich schon verlassen hatten, in Panik wieder zurückströmten auf den Rasen des Stade de France, das ist relativ einfach zu rekonstruieren. Es war wohl eine weitsichtige Entscheidung von vielen, mit denen die Stadionsicherheit (noch) Schlimmeres verhindert hat. Die Ausgänge an der Ostseite waren verschlossen, aber nicht alle hatten nach dem Abpfiff die entsprechenden Durchsagen gehört. Es wurde also eng zwischen den Tribünen und dem etwa vier Meter hohen Metallzaun, der das Stadion wie ein Ring umgibt. Und dann machte plötzlich das Gerücht die Runde, dort draußen seien Terroristen unterwegs. Die Menschen drängten also wieder zurück - die Ordner machten den Weg auf den Rasen frei.

Und deshalb gibt es jetzt also diese Bilder, auf die es die Terroristen ja womöglich abgesehen hatten. Ein Stadion, auf das die Welt blickt, der Weltmeister und der Gastgeber der Europameisterschaft 2016 - und auf dem Spielfeld: ein kleines Mädchen, das in Tränen ausbricht. Zuschauer, die fassungslos zusammenklappen. Andere, die sich in den Armen liegen und weinen. Das totale Durcheinander.

Oder stimmt das gar nicht? Hatten die Angreifer ganz andere Bilder gewollt?

Drei tote Selbstmordattentäter, dazu ein weiteres Todesopfer, 31 leicht und 15 schwer Verletzte: Das ist die vorläufige Bilanz der drei Bomben, die am Freitagabend vor dem Stade de France explodierten. Die ersten beiden unmittelbar vor den Stadiontoren - Spieler und Zuschauer registrierten, dass die Tribünen vibrierten. Das war Mitte der ersten Halbzeit. Der dritte Knall drang etwas später und von weiter entfernt in die Arena. Da hatte sich schon herumgesprochen, dass etwas nicht stimmen kann. Staatspräsident François Hollande hatte die Ehrentribüne verlassen.

Nicht so einfach zu rekonstruieren ist, was genau die drei Angreifer eigentlich vorhatten. Die ersten beiden Bomben gingen unmittelbar an zwei der Zugänge hoch, die dritte auf dem Weg Richtung Metro in der Nähe eines Fastfood-Restaurants. Und das alles, nachdem die Zuschauer längst auf ihren Sitzen waren. Wenn man sieht, was kurz darauf in der Innenstadt im Theater "Bataclan" vor sich ging - Geiselnahme, Massaker, 89 Tote - muss man wohl davon ausgehen, dass es kaum der ursprüngliche Plan gewesen sein kann, die Bomben draußen vor den Stadiontoren zu zünden. Zu einem Zeitpunkt, zu dem dort vor allem Sicherheitsleute herumstehen. Was also dann? Ein Blutbad auf den Tribünen? Während der TV-Übertragung - als Inferno für ein Millionenpublikum?

Dass die Männer mit den Sprengstoffgürteln schon so gut wie im Stadion waren, wie es am Samstagabend mehrere ausländische Quellen andeuteten, stimmt so offenbar nicht. Tickets hatten sie jedenfalls keine. Laut L'Équipe, die sich auf Ermittlerkreise bezieht, gehen die Behörden inzwischen davon aus, dass die Männer einen Plan A und einen Plan B gehabt haben müssen. Plan A war demnach der eher unwahrscheinliche Fall, es auf die Tribünen zu schaffen. Plan B sei gewesen, heißt es, durch die zwei Detonationen während der Live-Übertragung zunächst Panik auszulösen - und dann möglichst viele flüchtende Fans auf dem Weg zur Metro mit der dritten Bombe zu treffen.

Tatsächlich versuchten mehrere Zuschauer, nach den ersten Detonationen das Stadion zu verlassen. Da war es aber - auch so eine weitsichtige Maßnahme - bereits abgeriegelt. Die Lage draußen: völlig unübersichtlich; dazu erste Meldungen aus der Stadt. Die größtmögliche Sicherheit bot da das Stadion. Auch deshalb mussten die beiden Mannschaften weiterspielen bis zum Schluss, selbst wenn das manch einem angesichts der Ereignisse unpassend vorgekommen sein mag. Um den verschiedenen Polizei- und Anti-Terror-Einheiten die Zeit zu geben, einen sicheren Korridor für den Heimweg der fast 80 000 zu schaffen. Um mögliche weitere Täter aufzuspüren - was im Fall von Attentäter Nummer drei ja offenbar auch gelang.

Die Spieler der beiden Mannschaften erfuhren von der Eskalation auf dem Weg in die Kabine. Da lief auf einem der Bildschirme die erste Sondersendung des Senders LCI. "Für mich treten der Sport, das Spiel und die Gegentore heute völlig in den Hintergrund", sagte Bundestrainer Joachim Löw noch kurz im ARD-Interview. Und dann war die Nationalelf verschwunden.

Nicht nur die echte Nationalelf. Auch der Twitter-Account "Die Mannschaft", der sonst jeden Schritt des DFB-Teams vermeldet - stumm. Kein Spieler twitterte. Irgendwann wurde die Meldung verbreitet, das Team sei in Kleinbussen in Sicherheit gebracht worden - eine Finte. Tatsächlich blieben Spieler und Betreuer die ganze Nacht im Kabinenbereich. Auch ihre Gastgeber blieben bis weit nach Mitternacht - wir gehen erst, wenn wir wissen, dass auch die Deutschen sicher nach Hause kommen, sollen die Franzosen sofort entschieden haben. Es war eine fast schon rührende Verbrüderung inmitten des Terrors.

Die Zuschauer schlichen durch ein Spalier von Polizisten zu den Regionalzügen, gegen zwei Uhr nachts war das Stadion geräumt. Die deutsche Nationalmannschaft wurde am Samstagmorgen nach Frankfurt ausgeflogen, mit einer Sondermaschine.

© SZ vom 16.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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