Raul:Kapitän ohne Brücke

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Das Tor des eingewechselten Raul kann nicht überdecken, dass seine Zeit in Spaniens Nationalelf zu Ende geht.

Ronald Reng

Rauls Gedanken kann man lesen - an der Wand des Frühstücksraums. Raum Sevilla heißt der Saal in der Sportschule Kaiserau zu Kamen, in dem sich die spanischen Nationalspieler während der Weltmeisterschaft allmorgendlich treffen, und der Blick fällt dort fast zwingend auf das prägnante Motto an der Wand. Es las sich zuletzt wie eine Anklage aus dem Mund Rauls: "Jeder Tag ohne Fußball ist ein verlorener Tag."

Er kann es noch: Raul. (Foto: Foto: AP)

Die Unzufriedenheit der Ersatzspieler hat schon manches Team besiegt, und es wäre naiv gewesen zu glauben, das Reservistendasein von Raul Gonzalez, 28, Spaniens Kapitän und Emblem, würde keine Konflikte nach sich ziehen.

Seit Montagnacht nun, seit einem mühsamen 3:1-Sieg in Stuttgart über Tunesien, ist Spanien faktisch als Vorrundengruppensieger für das Achtelfinale qualifiziert und in den härtesten Wettbewerb verstrickt. Die Raul-Debatte hat den Siedepunkt überschritten.

Eingewechselt zur zweiten Halbzeit gegen Tunesien, schoss er das 1:1. Es war ein Raul-Tor: kein schönes Tor, ein bedeutendes Tor; mehr als ein Tor: Benzin ins Feuer einer Diskussion. Spielen oder nicht spielen, das ist hier die Frage. Das Publikum liebt solche Debatten fast so sehr wie Tore, ganz sicher etwa wurde in Deutschland über "Kahn oder Lehmann?" mehr geredet und geschrieben als über jedes Tor in jener Zeit.

Eine Ikone

Oft geht dabei die sportliche Bedeutung der Frage unter: Bei dieser WM war es bislang völlig irrelevant, wer im deutschen Tor spielte. Auch Raul wäre in dieser spanischen Elf kein Protagonist, würde er zurückkehren. Umso wichtiger ist es, dass Nationaltrainer Luis Aragones nun hart bleibt. Raul ist der Rekordtorschütze der seleccion, eine Ikone. Aber er gehört nicht mehr in Spaniens erste Elf.

Der Fußball besitzt nur ein Kurzzeitgedächtnis, vielleicht das kürzeste Gedächtnis der Welt: Ein einziges Tor lässt alle vergesslich werden. Schon erinnerte sich keiner mehr, wie Raul die ganze Saison gespielt hat, wie er auch in Stuttgart vor und nach seinem Volltreffer agierte. Im Prinzip ist solch eine kollektive Alzheimer-Attacke auch nicht ganz falsch, denn ein Stürmer existiert vor allem für solche Augenblicke: in denen er das Glück bringt.

Doch Spanien lebt mehr als alle anderen Teams bei dieser WM vom Zusammenspiel seiner Offensive, von den endlosen Passstafetten. Raul, der im Winter drei Monate mit einem Kreuzbandriss aussetzte, dem in der Melancholie seines erfolglosen Vereins Real Madrid die Form abhanden kam, spielt ein anderes Spiel. Er versteckt sich im Niemandsland zwischen Angriff und Mittelfeld, er lauert, um dann plötzlich hervorzustechen. Als Alternative, um der Partie eine andere Dimension zu geben, wenn sie stockt, hat er noch immer seine Berechtigung. Für das fließende Spiel, das Spanien charakterisiert, sind seine Sturmkonkurrenten Luis Garcia und David Villa besser geeignet.

Raul wollte in Stuttgart auch noch nach dem Schlusspfiff etwas demonstrieren. Er kam pfeifend aus der Umkleidekabine. "Macht euch keine Sorgen, es kommt", sagte er. Das klang vage nach dem Versprechen großer Zeiten: "Es" werde kommen.

Vor allem weil es Rauls einziger vollständiger Satz war, den er an die Medienvertreter richtete. Freundlichkeit kann ätzen, und wie er lächelnd, Antworten verweigernd an den Reportern vorbeirannte, musste man an Jorge Valdano denken, Real Madrids ehemaligen Sportdirektor. Raul verzeihe nichts, hat Valdano einmal gesagt: "Ein Trainer, der ihn nur einmal nicht spielen lässt, ist für ihn ein Verräter, mit dem er kein Pardon kennt."

Bittere Zerwürfnisse

Als ihm Trainer Aragones am Sonntag beim Training etwas hatte sagen wollen, war Raul zunächst barsch weitergegangen. In der überdrehten Welt einer WM, in der jede Geste öfter und wagemutiger interpretiert wird als das Lächeln der Mona Lisa, wurde aus dieser Anekdote bei vielen gleich der Bruch zwischen Trainer und Spieler. Tatsächlich ist Raul professionell genug, seine Versetzung ins zweite Glied zu ertragen. Dass sie ihn schmerzt, ist keine Frage.

Für Gesteninterpretierer aber gab es auch in Stuttgart ein interessantes Detail: Raul übernahm, entgegen dem festen Brauch des Fußballs, bei seiner Einwechslung nicht die Kapitänsbinde von Torwart Iker Casillas. "Raul ist ein bescheidener Junge", verteidigte ihn Aragones. Wenn der öffentliche Druck nun wächst, Raul müsse spielen, sollte der Trainer aber zum Wohle seiner Elf auch nicht vergessen, was er selbst noch vor wenigen Tagen glaubte: "Raul hat an Schnelligkeit verloren."

In solchen Debatten geht leicht verloren, worum es eigentlich ging. Am Ende werden daraus bittere persönliche Zerwürfnisse. Sachlich betrachtet geht es bei der ganzen Diskussion doch nur um ein taktisches Detail: Will Spanien nun einen Stürmer, der mitspielt, oder einen, der lauert? Sachlich betrachtet kann Raul doch auch als Ersatzspieler sehr wertvoll sein. Die Mitspieler versuchten, ihm das in Stuttgart zu vermitteln, indem sie ihn nach Schlusspfiff suchten und umarmten. Denn wer kann schon alles sachlich betrachten? Auch Raul braucht Liebe.

© SZ vom 21.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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