Radsport:Träumen verboten

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Der 16-jährige Radrennfahrer Martin Reinert gilt als Riesentalent. Wenn er Profi wird, kommt das Thema Doping auf ihn zu - was dann?

Tanja Rest

Mit sechzehn braucht man Leute, an die man glauben kann. Man glaubt vielleicht an die Raps von Bushido oder an die punkige Coolness von Pink oder an die Torjägerqualitäten von Lukas Podolski. Martin Reinert hat an Erik Zabel geglaubt. Weil der so ein toller Sprinter war und ein lockerer Typ noch dazu. Er glaubte auch dann noch an ihn, als alle anderen schon zweifelten. Bis zum 24. Mai 2007, als Zabel zugab, dass er bei der Tour de France 1996 gedopt hatte: "Mein Sohn fährt auch Rad", sagte Zabel mit einer Stimme, der man die Scham anhören konnte, "ich will ihn nicht weiter anlügen." Martin kennt Rik Zabel, sie fahren Rennen zusammen, sie sind fast gleich alt. "Das fand ich schlimm", sagt er.

Der 16-jährige Nachwuchsradfahrer Martin Reinert träumt von einer Profikarriere. (Foto: Foto: oh)

Martin Reinert hätte selbst dieser belogene Sohn sein können.

Besuch in Besigheim, nördlich von Stuttgart. Im Wohnzimmer der Familie Reinert sind alle versammelt, die diese Erfolgsgeschichte möglich gemacht haben: Der Vater Marcus ist da, ein Managertrainer, und die Mutter Gudrun, Physiotherapeutin. Martin trägt das Nationaltrikot des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR), er ist ein ruhiger Junge mit spürbarem Selbstbewusstsein und Entschlossenheit in der Stimme. Man kann sich gut vorstellen, dass er auch so fährt - umsichtig, hartnäckig, sensibel für die Dynamik des Rennens. "Der Martin freut sich natürlich", sagt der Vater, "dass die Saison so gut gelaufen ist für ihn."

Rennrad statt Mountainbike

Sein Trainer hat am Telefon gesagt, dass aus Martin einmal ein Profi werden kann. Wenn sich der Radsport nicht grundlegend ändert, würde das Thema Doping auf ihn zukommen. Was dann?

Martin war zwölf, als er einen Rennlenker auf sein Mountainbike schrauben wollte, "weil ich die Form so schön fand". Stattdessen bekam er ein richtiges Rennrad. Im selben Jahr fuhr er in Hamburg das erste Rennen in seiner Altersklasse und gewann; ein Jahr später wurde er Dritter bei den Süddeutschen Meisterschaften. Und so ging es immer weiter. Der Vater legt eine Liste mit Martins Erfolgen auf den Tisch, es ist eine ziemlich lange Liste. 21 Siege hat er allein in diesem Jahr eingefahren, drei Deutsche Meisterschaften sind darunter; in der Gesamtwertung lag er vom ersten Tag an vorn. "Wenn es für die U17-Fahrer ein gelbes Trikot geben würde", sagt der Vater stolz, "dann hätte man die ganze Saison über nur eines gebraucht."

"Was hasch dem denn gebbe?"

Marcus Reinert ist selbst ein Radsportverrückter, er hat vor ein paar Jahren den Trainerschein gemacht und betreut jetzt den Ludwigsburger Nachwuchs. Mit Martins Erfolgen habe sich so eine Dynamik entwickelt in der Familie, erzählt er, "wir sind da zusammen reingewachsen". Im Sommer steigen sie jedes Wochenende ins Auto und fahren zum Radrennen; der Vater gibt Tipps, Gudrun Reinert fotografiert - "damit der Martin später mal weiß, wo seine Jugend geblieben ist".

Die Eltern sagen, dass sie sich ein Leben ohne diese Tage an der Strecke, mit den anderen Eltern und der roten Renn-Bratwurst zum Abschluss, nicht mehr vorstellen können. Aber natürlich ist ihnen auch nicht entgangen, dass, während ihr Sohn von einem Sieg zum nächsten fuhr, im Radsport etwas kaputtging.

In Martins Zimmer hängen Plakate von Erik Zabel, Stefan Schumacher und Alessandro Petacchi, jeder von ihnen ein ausgewiesener Doper. Es sind im Profi-Radsport keine sauberen Sieger mehr übriggeblieben, die ein Teenager noch anhimmeln könnte. Als Stefan Schumacher bei der diesjährigen Tour überraschend das Zeitfahren gewann, hat Martin noch verzweifelt gehofft, dass Schumacher einfach einen sehr guten Tag gehabt hatte. "Aber geglaubt hab' ich's eigentlich nicht." Wenn man ihn heute nach seinen Vorbildern fragt, nennt er Ralf Matzka und Stefan Denifl, zwei Jungprofis, die für die Teams Ista und Elk Haus-Simplon fahren. Matzka und Denifl kennt außerhalb des Radsports kein Mensch.

Das Vertrauen ist weg und mit ihm die Begeisterung, die die Radfahrer so viele Jahre über hohe Berge und endlose Flachetappen ins Ziel getragen hat. Nicht nur die Profis bekommen das zu spüren. Mit seinen Junioren, die Jüngste ist neun Jahre alt, ist Marcus Reinert vor kurzem im Mannschaftsdress über die Dörfer geradelt, da hat ihnen ein Rentner vom Straßenrand aus zugerufen: "Drecksdoper! Habt ihr eure Spritzen dabei?" Und als sein Sohn einmal mit zweieinhalb Minuten Vorsprung Deutscher Meister wurde, hat an der Ziellinie ein anderer Vater gefragt: "Was hasch dem denn gebbe?"

14000 Kilometer fährt Martin im Jahr, davon 3000 Kilometer Rennen, etwa 1000 Trainingsstunden kommen da zusammen. Wenn er es drauf anlegt, schafft er in der Ebene einen 45er Schnitt. Ein normaler Tag sieht so aus, dass er vor der Schule eine halbe Stunde joggt, nach der Schule zwei, drei Stunden Rad fährt und dann Hausaufgaben macht. Martin sagt, dass er vom Typ her ein bisschen ist wie Paolo Bettini: "In keiner Disziplin der Beste, aber halt überall ziemlich gut."

Begeisterung und Ernsthaftigkeit

Ein kompletter Fahrer also; wo Vielseitigkeit gefragt ist, liegt er vorn. "Ich glaube auch, dass ich ein Rennen sehr gut lesen kann. In Unna ist mir der perfekte Sprint gelungen, weil ich die Lücken optimal gefunden habe." Es ist nicht nur Begeisterung, die da mitschwingt, sondern auch eine große Ernsthaftigkeit. Und die braucht er dringend. Im Radsport ist in diesen Zeiten wenig Platz für jugendlichen Überschwang.

Gerade erst haben die Reinerts Post vom BDR bekommen: Martin soll die "Ehren- und Verpflichtungserklärung" unterschreiben. Darin steht unter anderem, dass er Abwesenheiten melden muss, "damit jederzeit die Möglichkeit der Durchführung einer Trainingskontrolle besteht". Zweimal musste er in diesem Jahr zur Dopingprobe. Wenn ihr Sohn einen Schnupfen hat, erzählt der Vater, dann überlegen sie: "Gehen wir zum Arzt oder rufen wir gleich bei der Nada an?"

Die Nada ist die Nationale Anti Doping Agentur, sie führt die Liste der verbotenen Wirkstoffe. Meist ergibt ein Anruf dort, dass Martin ein rezeptfreies Nasenspray nicht einnehmen darf, weil es eine indizierte Substanz enthält. Vergangenen Winter hat er deshalb vier Monate lang Salzlösung gesprüht, um am Ende Antibiotika zu schlucken - aus der Erkältung war eine Nebenhöhlenentzündung geworden.

Eltern mit klarem Standpunkt

So kommt eine Episode zur anderen, und je weiter man sich von Martins Erfolgen und den unbeschwerten Wochenenden an der Rennstrecke entfernt, umso bedrückter wird am Besigheimer Wohnzimmertisch die Stimmung. "Sehen Sie", sagt der Vater, "jetzt sind wir wieder die halbe Zeit nur beim Doping. Das macht mich irgendwie traurig."

Martins Eltern haben einen klaren Standpunkt zum Thema Doping: Es vernichtet Arbeitsplätze, es macht den Radsport kaputt. Nur dass dieses Thema ihren Sohn schon jetzt immerzu begleiten muss, dass der Verdacht gewissermaßen in seinem Windschatten dahinsegelt, das finden sie nicht gut. Das ärgert sie sogar. Die Eltern erzählen, dass es oben im Dorf ein Bushäuschen gibt, da sitzen die Jungs und Mädels in Martins Alter und trinken Bier und rauchen Zigaretten. Da könne man doch eigentlich froh sein, sagt Gudrun Reinert: "Unser Sohn fährt Fahrrad, und er hat ein Ziel vor Augen."

Das Ziel ist noch gut fünf Jahre entfernt, aber schon erkennbar. "Ich würde gerne mal einen Vertrag bei einem Rennstall bekommen", sagt Martin. Seine Eltern finden, er brauche auch Freunde außerhalb des Radsports und einen ordentlichen Schulabschluss, der ihm eine Rückzugsmöglichkeit offen lässt. "Damit die Abhängigkeit nicht zu groß wird", wie der Vater sagt. Grundsätzlich wollen sie Martin bei seinen Plänen unterstützen - wenn es dann einmal das ist, was er will.

Nun glauben die Eltern aber auch, dass eine Spitzenplatzierung etwa bei der Tour de France ohne Doping derzeit kaum machbar ist. Ein Dilemma: Sie dürften ihrem Sohn zwar alles Gute, aber keinen Titel wünschen. "Wenn ich nicht glauben würde, dass der Sport sauberer wird, müsste ich ihn da sofort rausnehmen", sagt Marcus Reinert. "Riccardo Ricco, Schumacher, Kohl: Dass so viele erwischt werden und rausfliegen, macht mir Mut."

Und wenn sich das System nun doch nicht ändert? Wenn Martin scheitert, weil er sich weigert zu dopen? Da setzt der Vater zu einem langen Monolog an. Er spricht von besserer Ernährung und intensiverer Betreuung und von Trainingsmethoden, bei denen noch "viel Luft nach oben" sei. Er nennt Patrik Sinkewitz und Jan Ullrich, denen man das Laufrad hätte "um die Ohren schlagen" müssen, so schlampig hätten sie trainiert. Es klingt, als versuche er sich selbst davon zu überzeugen, dass es nichtsdestotrotz doch möglich ist. Dass man aufrecht in dieses System hineingehen und sich dann weigern kann, nach dessen Regeln zu spielen.

Nur einmal in Paris ankommen

Es gehe ihm nicht darum, große Rennen zu gewinnen oder Weltrekorde zu brechen, sagt Martin. "Klar, die Tour ist auch mein Hauptziel, aber den Traum vom Treppchen habe ich nicht mehr." Er sagt: "Mir würd's schon reichen, einmal in Paris anzukommen." Fast wünscht man ihm, dass er das jetzt nur behauptet, weil dies sein erstes großes Interview ist und er da keinen Fehler machen darf.

Dass er insgeheim halt doch davon träumt, einmal am Tourmalet oder am Col d'Aspin das Feld hinter sich zu lassen, an ihnen allen vorbeizufliegen, die Anfeuerungsrufe in den Ohren, den Etappensieg in den Beinen und unter ihm auf dem historischen Pflaster, in Großbuchstaben: sein Name.

Dem Radsport sind die Träume abhanden gekommen. Aber mit sechzehn muss man doch träumen dürfen, oder?

© SZ vom 06.12.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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