Prothesen-Sprint:Neue Größenordnung

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Das paralympische Komitee ändert sein Mess-System, um Techno-Doping von Prothesen-Sprintern zu verhindern. Der deutsche David Behre sieht sich im Nachteil.

Von Sebastian Fischer, London/München

Der Sprinter David Behre ist ein auskunftsfreudiger Sportler. Er wiederholt stets bereitwillig, wie er als junger Mann bei einem Unfall seine Beine verlor, an einem Bahnübergang. Obwohl er, inzwischen 30 Jahre alt, längst einer der bekanntesten paralympischen Athleten Deutschlands ist, und mehrfacher Medaillengewinner auf Prothesen. Doch es gibt in diesen Tagen, in denen Behre verletzt als Zuschauer bei den Weltmeisterschaften in London weilt, eine Frage, auf die er keine Antwort weiß. Die Antwort bedroht den Fortbestand seiner Karriere als Profisportler.

Die Frage lautet: Herr Behre, wie groß sind Sie?

Vor seinem Unfall mit 20 Jahren maß Behre 1,83 Meter, so steht es zum Beispiel in seinen Musterungs-Dokumenten. Mit seinen Sprint-Prothesen ist er 1,86 Meter groß - noch. Denn geht es nach dem Internationalen Paralympischen Komitee (IPC), soll er zur kommenden Saison kleiner werden. Wie klein, ob 1,79 Meter oder vielleicht doch nur 1,76 Meter, das ist noch nicht klar. Und das zeigt das Dilemma.

Behre moniert schon länger, die Konkurrenz würde tricksen

Behre startet in der Klasse T43 der beidseitig Amputierten; einer Klasse, die in London den Reformbedarf der stets umstrittenen Klassifizierungen im Behindertensport offenbarte. Bei den beidseitig Amputierten muss geschätzt werden, wie groß die Athleten mit gesunden Beinen wären, um sie dann auf diese Größe einzustellen. Behre und sein ebenfalls verletzter Teamkollege Heinrich Popow monieren schon lange, dass die Konkurrenz bei der Vermessung ihrer Prothesen tricksen würde. "Manche Athleten stoßen beim Sitzen mit dem Knie an die Nase, weil der Unterschenkel so lang ist. Das sieht aus wie im Zirkus", sagte Popow vor den Paralympics 2016. In London sprintete zum Beispiel der Amerikaner Hunter Woodhall über 400 Meter auf großen Prothesen zur Silbermedaille. Auf ziemlich großen Prothesen.

Um dem als "Techno-Doping" bekannten Trend entgegenzuwirken, hat das IPC zum 1. Januar 2018 seine Vermessungsbestimmungen verschärft. Nach den alten, jetzt in London noch gültigen Bedingungen, ergibt sich die Größe aus zwei verschiedenen Messungen an Armen und Oberkörper. Doch schon in London nimmt das IPC für künftige Wettbewerbe die neuen Messungen vor. Sie sind aufwendiger: Nun werden die Sitzhöhe sowie die Längen von Oberschenkel, Oberarm und Radiusknochen erfasst. Doch auch das neue System hat Schwächen. Und die offenbart ausgerechnet Behre, der sich eigentlich über die Reform freut.

In Leverkusen 1,81 Meter groß, in London 1,78 Meter

Behre und der deutsche Teamarzt Helmut Hoffmann kritisieren nicht die neue Formel, die sei nicht schlecht, sagt Hoffmann. Es geht vielmehr um die Umsetzung der Messung, die derzeit noch mehr einem Ratespiel gleicht. Klassifizierer müssen Messpunkte ertasten und abmessen: Knochen, den Schulterkopf zum Beispiel, der in einem muskulösen Oberarm gar nicht so leicht zu finden ist, wie Hoffmann anmerkt. Weltweit gibt es überhaupt nur etwa ein halbes Dutzend dafür ausgebildete Klassifizierer, deren Kenntnis, so erklärt es Hoffmann, meist auf der Ansicht eines 20 Minuten langen Youtube-Tutorials beruht. In diesem Video sieht man die Klassifizierer mit Filzstift auf Haut malen: Die Linie sei horizontal zu zeichnen, heißt es: Man müsse beachten, die Haut beim Messen nicht in die Länge zu ziehen. Klingt skurril. Doch Differenzen von Millimetern können in der Addition später Zentimeter ausmachen. Und die entscheiden auf der 400-Meter-Strecke später über Meter.

Hoffmann maß Behre in Leverkusen und schätzte ihn auf 1,81 Meter. In London schätzten sie ihn auf 1,78 Meter. Er legte Protest ein, wurde noch mal gemessen und auf 1,76 Meter geschätzt. Danach noch mal, Ergebnis: 1,79 Meter. Seine Musterungs-Dokumente akzeptiere das IPC nicht, sagt Behre: Die könnten ja gefälscht sein.

"Das zerstört mir den Beruf!"

Auf die neuen, viel kleineren Prothesen, sagt Behre, würde er sich im Herbst seiner Karriere nur sehr schwer einstellen können, er müsste seinen ganzen Laufstil ändern. Doch Behre, der in Rio mit der 4x100-Meter-Staffel seine erste paralympische Goldmedaille gewann, ist mit seinem Laufstil eigentlich sehr zufrieden. Deshalb fordert er vom IPC professionellere Messungen mit Hilfe eines MRT, das Ertasten wäre hinfällig. Das IPC kontert, ein MRT wäre zu teuer und würde kleinere Nationen benachteiligen. Doch es gebe insgesamt nur rund 20 beidseitig amputierte Spitzenathleten, sagt Hoffmann: Ein MRT sei eine einmalige Investition. 10 000 Euro würde das für alle kosten, schätzt Behre. Er rechnet das auf gegen Sponsoren-Einnahmen, die ihm verloren gehen könnten, würde er nicht mehr um Medaillen laufen. "Das zerstört mir den Beruf", sagt er.

Behre ist trotz seiner Verletzung nach London gereist, das Hotel war ja eh bezahlt, die Kollegen feuerte er auch gerne an. Und er gab Interviews, englischen Medien, der BBC, um auf seinen Fall aufmerksam zu machen. Er will jetzt erst mal ein paar Monate Pause machen und regenerieren, bevor er mit der Vorbereitung auf die neue Saison beginnt. Eine neue Prothese will er noch nicht anfertigen lassen. Er hat noch Hoffnung, dass er sie vielleicht doch nicht braucht.

© SZ vom 23.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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