Portugal gegen Kroatien:Konzert ohne Ton

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Gegen Kroatien reicht ein gefährlicher Angriff zum 1:0. Portugal vertraut bei der EM auf einen pragmatischen Ansatz - und hat nun gute Chancen auf ein langes Turnier.

Von Thomas Hummel, Lens

Um zu verstehen, welchen Ausnahmezustand die Stadt Lens während dieser Europameisterschaft erlebt, reichte am Sonntagvormittag ein Blick auf die Taxifahrer. Bleichgesichtig und mit Sonnenbrillen vor den Augen lehnten sie an ihren Autos und erzählten, dass sie bis vier Uhr morgens Menschen in roten und rot-weiß-karierten Hemden zu ihren Betten gefahren hatten. Dabei sei normalerweise nach 18.30 Uhr kein Mensch mehr auf der Straße. Wer aktiv sei und überhaupt etwas im Leben vorhabe, der ziehe nach Lille oder gleich nach Paris. Lens? Ruhig, langweilig, werde zum Altenheim.

Man möchte der nordfranzösischen Stadt nicht zu nahe treten, aber das Fußballspiel zwischen Portugal und Kroatien hätte demnach keinen besseren Ort für sich finden können.

Das Tor fiel so überraschend, als wäre kurz vor Mitternacht die Sonne über Lens aufgegangen

Während dieses langen Samstagabends im Stade Bollaert-Delelis konnten die Menschen in Lens beruhigt ihrer Lebensweise nachgehen oder gleich einnicken. Der Eindruck, dass diese beiden ambitionierten Mannschaften noch etwas im Turnier vorhatten, wollte sich nicht wirklich einstellen. Sie boten der Welt ein Fußballspiel, das einem Open-Air-Musikkonzert ohne Ton ähnelte. Man sieht die Band vorne singen und tanzen, aber niemand kann etwas hören. Dem ersten Staunen folgte bald leiser Missmut, in den Pausen nach 90 und 105 Minuten laute Protestschreie, Pfiffe und Buhrufe. Stets mit der Erwartung verbunden, dass dies nur ein Irrtum sein könne. Schließlich hatte Lens ein Spektakel erwartet mit einigen Größen des Business, die Eintrittskarten kosteten viel Geld.

Stückwerk: Ricardo Quaresma vollendet aus kürzester Distanz zum Sieg der Portugiesen gegen Kroatien. Torwart Subasic (rechts) sieht am Boden liegend zu. (Foto: Benoit Tessier/Reuters)

Der Irrtum endete erst zweieinhalb Stunden nach Anpfiff, in der 117. Spielminute. Der Ton kehrte zurück, als der Kroate Ivan Perisic den Ball an den Pfosten köpfelte, es war die erste ernsthafte Annäherung an ein Tor. Doch das Spiel machte sich einen Spaß daraus, die Kroaten nicht dafür zu belohnen, im Gegenteil. Der Ball sprang zurück ins Feld, was den Portugiesen den Gegenangriff ermöglichte. Über den Neu-Bayern Renato Sanches sowie Nani kam der Ball zu Cristiano Ronaldo. Dem gelang der erste Schuss auf ein Tor überhaupt, den Abpraller nickte Ricardo Quaresma zum 1:0 ins Tor. Das alles kam so überraschend, als wäre kurz vor Mitternacht über Lens die Sonne wieder aufgegangen.

Die Kroaten kamen mit diesem Naturereignis überhaupt nicht klar. "Ich habe noch nie so viel Trauer und Tränen gesehen", berichtete Ivan Rakitic vom FC Barcelona und schimpfte: "Manchmal ist Fußball das einfachste Spiel, und manchmal ist es das dümmste Spiel der Welt." Die Mannschaft betrauerte die Chance, weit in ein Turnier vorzudringen, vielleicht sogar bis zum Ende dabei zu sein. Nach der fast perfekten Vorrunde, darunter dem unerwarteten 2:1 über Spanien, schien der Weg geebnet zu sein. "Wir wussten, wenn wir Portugal schlagen, haben wir ein freies Feld vor uns", sagte Trainer Ante Cacic. Viertelfinale gegen Polen, Halbfinale gegen Belgien, Ungarn oder Wales, das waren die Aussichten. War es jemals so einfach, in ein EM-Finale vorzudringen? Doch statt mit Entschlossenheit die Möglichkeit wahrzunehmen, ließen sich die Kroaten von sehr defensiven Portugiesen ausbremsen. Statt mehr Risiko ins Spiel zu bringen, ließ Cacic die Partie vor sich hintrudeln. Da half seiner Mannschaft auch nicht, dass sie am Ball strukturierter und reifer wirkte. Dass sie mit Rakitic, Luka Modric und Milan Badelj eine der besten Mittelfeldreihen des Turniers hatte. Vorne ging einfach nichts, und wer nicht auf des Gegners Tor schießt, der gewinnt selten eine EM.

All das hätten sich auch die Portugiesen anhören müssen. Doch da war eben diese eine Szene, nach 117 Minuten. Und wie immer darf der Sieger auch den schrecklichsten Kick ungestraft schön reden. Verteidiger Pepe sprach ohne zu erröten von einer "bellísima partida". In der Vorrunde habe die Mannschaft viele Chancen herausgespielt, aber kaum getroffen, nun sei es eben umgekehrt gewesen. Trainer Fernando Santos belehrte die Nörgler. Desculpe, aber man müsse manchmal pragmatisch an die Sache herangehen: "Ich würde gerne ein schönes Spiel spielen, aber so gewinnt man nicht immer Turniere."

Mit dieser stachligen Haltung hatte er zuletzt die Griechen trainiert, bei der WM 2014 scheiterte er erst im Achtelfinale gegen Costa Rica. Im Elfmeterschießen.

Cristiano Ronaldo gewinnt nur vier Zweikämpfe und muss zum Jubeln überredet werden

Santos hatte seine Mannschaft strikt defensiv ausgerichtet. Mit Cédric Soares, Adrien Silva und José Fonte schickte er drei neue Spieler ins Turnier, die die Stärken der Kroaten eliminierten. Cédric Soares nahm Perisic fast alle Fähigkeiten, Fonte zog gegen Mario Mandzukic in den Kampf, Adrien Silva lief sich gegen Modric die Seele aus dem Leib. Der Gegner hatte zwar häufig den Ball, aber weit weg vom eigenen Tor. Und eigene Angriffe? Santos zuckte die Schultern. "Wir haben versucht, das Spiel zu machen, aber Kroatien hat uns nicht gelassen. Und Kroatien hat auch versucht, das Spiel zu machen, aber wir haben sie auch nicht gelassen."

Cristiano Ronaldo feierte den Sieg mit dem Nachwuchs. (Foto: Francois Lo Presti/AFP)

Erstaunlich blieb, dass Cristiano Ronaldo sein Schicksal in dieser Zerstörer-Truppe fast klaglos hinnahm. 24 Mal hatte er während der ersten 90 Minuten den Ball, ein Wert, den jeder halbwegs motivierte Balljunge übertrifft. Der 31-Jährige gewann vier Zweikämpfe, und als der Schlusspfiff ertönte, musste er von den Mitspielern fast zum Jubeln überredet werden. Er wirkte apathisch angesichts dieses Nichts von einem Fußballspiel.

Nach drei Unentschieden gegen Island, Österreich und Ungarn sowie dem Gruselkick von Lens steht für Kroatiens Trainer Cacic nun dennoch fest: "Wir haben einen neuen Favoriten: Portugal." Das freie Feld im Turnierverlauf, das eigentlich die Kroaten nutzen wollten, liege nun eben vor dem Gegner. Was Cacic zu dem Schluss kommen ließ: "Fußball ist nicht gerecht."

© SZ vom 27.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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