Playoff-Debakel der Squadra Azzurra:Piccola, piccola Italia

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Der vierfache Weltmeister erntet nach dem 0:1 in Schweden harte Kritik. Jetzt muss für das Rückspiel schon die Hoffnung auf das Publikum herhalten, damit es nichts Negatives für die Historie gibt.

Von Oliver Meiler und Christopher Gerards, Rom

Zappen ist riskant. Es kann auch schon mal einen mittleren Blues auslösen, eine nostalgische Gefühlsduselei. So erging es am Freitagabend wohl vielen fernsehenden Italienern. In Solna bei Stockholm sollte gerade das Hinspiel in den Playoffs zwischen den Azzurri und den Schweden beginnen, von der es vorab geheißen hatte, sie entscheide über das Schicksal des italienischen Fußballs, über das ganze System. Nichts weniger. Gegeben wurde das Spiel wie immer auf Rai Uno, dem ersten, etwas angestaubten Staatssender, der die flaue Stimmung um die "Nazionale" mit nicht sehr überzeugenden Parolen zu heben versuchte. Und die Gefahr der ersten WM ohne Italien seit 1958 zu verbannen versuchte.

Beim Zappen saß da aber plötzlich Andrea Pirlo, frisch zurückgetreten nach langer Karriere, elegant gekleidet, auf dem weißen Sofa seiner Wohnung in New York, und redete mit dem Privatsender Sky Italia über Fußball. Ruhig, mit dieser Bescheidenheit, die immer zum Stil seines großartig unaufgeregten und gescheiten Spiels gepasst hatte, zum stillen und lässig geschlenzten Pass aus der Tiefe, zur intuitiven Vermessung des Rasens, zur Regie ohne Gebrüll. Gut ausgeleuchtet war Pirlos Stube nicht. Es war, als hätte ein Schleier über der Szene gelegen, ein Filter. Natürlich wäre es verwegen, Sky zu unterstellen, es habe den Effekt mit Absicht gewählt, um die Wehmut der Fans nach dem "Maestro" noch zu untermalen: Pirlo wie entrückt, als dahingewehte Reminiszenz an eine andere Zeit. Aber wer weiß?

"Die Apokalypse war noch nie näher"

Nun, nach dem Spiel in der "Friends Arena" von Solna war die Nostalgie noch viel größer. 0:1 verloren die Italiener gegen Schweden, was ihre Chancen auf eine Qualifikation für die Weltmeisterschaften weiter und dramatisch kompromittiert. "Die Apokalypse", schreibt die Gazzetta dello Sport mit etwas wackligem Sinn für Geografie und Spielorte, "war noch nie näher - und der Kreml war noch nie ferner." Am Montag im Mailänder San Siro, das bei der Gelegenheit mal wieder ausverkauft sein wird, sei für die Rettung "kreativer Fußball" nötig. Etwas Pirlo eben.

Im Hinspiel gab es davon: gar nichts. Keine der Reihen schien mit der jeweils vorderen zu kommunizieren, die Abwehr nicht mit dem Mittelfeld, das Mittelfeld nicht mit dem Sturm. Ein ärmlicheres, langsameres, ideenloseres Italien hatte man noch selten gesehen. Der Corriere della Sera giftete: "Italien ist ein Ensemble von Spielern, die nicht wissen, was sie anfangen sollen. Keine Ideen und wenig Teamgeist: Es ist skandalös, dass derart erfahrene Spieler in einem so wichtigen Spiel so wenig leisten." Und: "Nach der ersten Halbzeit in Schweden muss man zugeben, dass das Gefühl überwog, Italien habe eine WM-Qualifikation gar nicht verdient. Die zweite Halbzeit war dann ein wenig besser, doch da ist das Team nachträglich bestraft worden - durch einen tückisch abgefälschten Schuss. Soll aber keiner sagen, wir hätten Pech gehabt."

"Piccola, piccola Italia", titelte Tuttosport. Eine andere Zeitung schrieb, die Monotonie des italienischen Spiels sei "fastidiosa" gewesen - ärgerlich also, nervig sogar. Und diese Wahrnehmung trifft es wohl ganz gut. Marco Verratti, der schon lange den neuen Pirlo geben sollte, war mal wieder nur eine sehr blasse, heillos überforderte Hoffnung der Nation.

Ein hässliches Siegtor, beinahe à la italiana

Das Leid der Squadra Azzurra, es verdichtete sich in der 61. Minute. Es begann mit einem Einwurf von der rechten Seite, im Strafraum kam Schwedens Ola Toivonen an den Ball, konnte diesen, attackiert von Giorgio Chiellini, aber nur per Kopf zurückspielen, in Richtung von Jakob Johansson. Der war erst vier Minuten zuvor eingewechselt worden, und wahrscheinlich wäre sein folgender Schuss nie ins Tor geflogen, sondern vorbei oder aber mühelos von Gianluigi Buffon pariert worden. Doch dann: fälschte Daniele De Rossi den Ball ab, dieser änderte seine Flugbahn, und Buffon, schon auf dem Weg in die andere Ecke, musste zusehen, wie der Ball an ihm vorbei ins Tor holperte. Ein vollkommen kunstloser Treffer. Aber ein spielentscheidender.

Hatte so etwas nicht immer als ein typisch italienischer Sieg gegolten? Hinten gut stehen (okay, Italien hatte ein paar gute Chancen), ein bisschen Glück haben, sich Möglichkeiten herausspielen und dann vorne - auch schon mal vom Glück begünstigt - treffen. Aber jetzt hatte sich der Lauf der Dinge umgekehrt, jetzt waren es die Schweden, die einen Sieg landeten, wie er einst für die Italiener erfunden worden zu sein schien. Und dann auch noch dieses Ergebnis: 1:0. Kein Gegentor zu Hause kassiert, bei einem eigenen Tor in San Siro müsste Italien schon drei erzielen.

Niemand versteht Trainer Ventura

Der stattlichste Teil des kollektiven Ärgers entlädt sich über dem Coach, über Gian Piero Ventura. Man wirft ihm vor, er habe seine eigene Ideenlosigkeit auf die Mannschaft übertragen. Venturas Verrenkungen und Grimassen am Spielfeldrand verrieten, dass er nie an einen Erfolg glaubte. Der einzige Mann, der etwas Fantasie ins dröge, horizontale Ballgeschiebe hätte bringen können, der neapolitanische "Fantasista" Lorenzo Insigne, saß bis zur 76. Minute auf der Bank. Nach dem Spiel beklagte sich Ventura über den Schiedsrichter, weil der den harten schwedischen Stürmern alles verziehen habe - und das war dann wohl der Gipfel der Hilflosigkeit: Man kann ja nicht behaupten, die Verteidiger Giorgio Chiellini, Leonardo Bonucci und Andrea Barzagli seien besonders zart besaitete Zeitgenossen.

Die größten Probleme hat Italien nicht hinten, nicht beim Verhindern. Sondern vorne, da, wo es feine Füße und noch feinere Köpfe braucht, die das Spiel denken und lenken können. Wie das dieser Herr auf dem weißen Sofa in New York so gut konnte.

Dennoch hoffen sie nun auf den Montag, auf die Stimmung im Mailänder Stadion. "San Siro wird uns helfen, das Duell zu drehen", hatte Gianluigi Buffon nach diesem düsteren Abend in Schweden gesagt. Aber Trainer Ventura hatte einmal nicht unrecht, als er sagte: "Die Zuschauer werden keine Tore schießen - die müssen wir schon selbst erzielen."

© SZ vom 12.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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