Personalie:Gedanken im goldenen Käfig

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Christoph Metzelder, 21, soll die deutsche Fußball-Zukunft mitbegründen - und fühlt sich verfolgt.

Philipp Selldorf

(SZ vom 10. Juni 2002) - Früher, so hat Stefan Reuter seinem Vereinskameraden Christoph Metzelder kürzlich erzählt, waren die Zeiten für Fußballer noch einigermaßen leicht und unbeschwert. Damals hat der Nationalspieler Reuter ganz selbstverständlich bis in die Nacht vor dem Europapokalspiel Karten gespielt - und zwar "mit dem Manager!", wie Metzelder hinzufügt, schwankend zwischen Unglauben und Sehnsucht. Früher, so könnte ihm Rudi Völler noch von der WM 1986 in Mexiko erzählen, wohnten Spieler und Reporter während des Turniers im selben Hotel, sie tranken an der Bar Bier aus dem selben Zapfhahn, und es gab zwar auch da schon die finstere Macht der Presse, aber für Fußballer immer noch ein wenig Freiheit vor der öffentlichen Meinung.

"Man ist sich schon bewusst: das Land hängt dran." - Christoph Metzelder nach dem 1:1 gegen Irland (Foto: N/A)

Mit Goldwaagen gewogen

Heute bewachen Polizei und Sicherheitsdienst die Spieler, nur in Begleitung wird mal ein Reporter vorgelassen, und Christoph Metzelder, 21, kommt sich bei seiner ersten WM vor, als würde man ihn hier in einem Käfig aufbewahren, einem gläsernen obendrein. "Heute kann man sich als junger Spieler ja nichts mehr erlauben", sagt er, "man wird auf Schritt und Tritt verfolgt, jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt. Ein Bierhoff mit 21 im Vergleich mit Klose, Kehl oder auch mir, das sind ganz andere Umstände." Es ist zwar das gleiche Thema - Profifußball -, aber für Christoph Metzelder ein Unterschied wie zwischen Stumm- und Tonfilm.

Nach dem Spiel gegen Deutschland lud Irlands Trainer Mick McCarthy seine Jungs zum Ausflug nach Disneyland ein, für Metzelder ein unvorstellbarer Akt der Lässigkeit. Der Dortmunder Abwehrspieler traut sich kaum aus der Hotelanlage, weil er glaubt, dass ein Teil der Presse auf die Gelegenheit zum Abschuss lauert: "Gerade nach dem Irland-Spiel wartet natürlich jeder darauf, dass man vielleicht aus dem Hotel rausgeht in die Stadt. Früher hat sich darum keiner geschert, heute wartet man darauf, dass ein Spieler diesen Fehler begeht."

Metzelders Nachdenklichkeit und sein wacher Verstand

Metzelder hört im Geiste schon, wie die Anklageschriften der Zeitungen sie ausbuhen: "Die Story ist doch klar: Nach so einem Spiel gehen die Spieler sofort zur Tagesordnung über und keiner ärgert sich." Als das deutsche Nationalteam während der WM-Vorbereitung im Schwarzwald einen Freizeitpark besuchte, hat er sogar über das Risiko einer Achterbahnfahrt sinniert: "Wie wird einem das ein paar Wochen später nach einem schlechten Spiel ausgelegt?", fragte er sich und glaubt: "Vielleicht ist in Deutschland einfach ein besonderes Klima, das eine gewisse Lockerheit nicht erlaubt."

Ein bisschen viel Verfolgungsfurcht für einen so jungen Spieler, der in seinem ersten Bundesligajahr sogleich Deutscher Meister wurde, der vor einem Jahr noch in der Regionalliga gekickt hat (bei Preußen Münster) und bei seinem ersten WM-Turnier sofort einen festen Platz in der ersten Elf erhielt. Dem Teamchef Rudi Völler eine "überragende Karriere" prophezeit und attestiert: "Er hat Qualitäten und Substanz in seinem Spiel, wovon er noch gar nichts weiß." Doch dieser Tage treffen Metzelders Nachdenklichkeit und sein wacher Verstand auf den heiligen Ernst, der die Nationalmannschaft umgibt, und das ist eine Begegnung zweier kritischer Massen, wie er selbst weiß: Manchmal denkt er wohl einmal zu oft um die Ecke. "Es ist eigentlich furchtbar", stimmt er zu, und trotzdem empfindet er so viel Zwang in seiner Rolle als Fußballer, dass er sich irgendwann im Trotz zu lauter Selbstverständlichkeiten bekennt: "Ich stehe auch dazu, dass ich ein Buch lese, mich für Politik interessiere und in die Kirche gehe."

"Es ist unheimlich laut"

Metzelder betrachtet sich noch als "Mitläufer" in der Mannschaft, und doch prägt er bei der WM ihr neues Gesicht: neben Spielern wie Klose, Frings und Ballack, oder auch Kehl und Asamoah in der zweiten Reihe. Da gibt es einen Generationensprung, an den bei der allgemeinen Verkündung der deutschen Fußball-Apokalypse vor zwei Jahren niemand geglaubt hatte. Die Ehrfurcht vor der Erfahrung der Routiniers bleibt, die Jüngeren warten darauf, dass sich die Älteren an sie wenden. "Eine Frage des Respekts", nennt er das. Von wem er bisher am meisten gelernt hat, lässt sich leicht erraten. "Was Öffentlichkeitsarbeit angeht, von Oliver Bierhoff", sagt Metzelder, "was Siegermentalität angeht und wie man sich auf dem Platz zu verhalten hat, natürlich Oliver Kahn." Natürlich.

Ein bisschen staunend registriert er das noch alles, aber immerhin doch überzeugt, dass er Teil eines Kollektivs mit einer natürlichen, vernünftigen Ordnung ist. Vor dem Spiel gegen Kamerun wird Metzelder wieder respektvoll zuhören, wenn die Anführer sprechen: "Oliver Kahn wird als Kapitän das Wort ergreifen, Michael Ballack wird noch mal auf die Mannschaft einwirken", weiß er, "aber es sind auch Spieler, die nicht unter den ersten Elf sind, die etwas dazu beitragen: Oliver Bierhoff oder Jens Jeremies etwa." Für ihn scheint hier alles ein bisschen größer zu sein als Zuhause bei Borussia Dortmund: In der Kabine, bevor das Spiel beginnt, "da hat man das Gefühl, es ist unheimlich laut, es ist eine unheimlich aggressive Stimmung".

Vor dem Match gegen Kamerun wird sie vermutlich noch etwas aggressiver sein, denn "alle sind irgendwo an der Ehre gepackt und fühlen sich missverstanden nach dem Irland-Spiel". Die Mannschaft steht vor einem Endspiel. "Man ist sich schon bewusst: das Land hängt dran", sagt Christoph Metzelder. "Es wäre unheimlich schade, wenn es mit diesem einen Spiel vorbei wäre: es hat sich in dieser Mannschaft sehr, sehr viel getan und ich denke, es würde sich noch einiges entwickeln."

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