Paralympics in Rio:Brutal effektiv

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Nach Olympia zeigen auch die Paralympics: Das staatliche britische Sportsystem fördert dauerhaft Medaillen. Die Vielfalt bleibt dabei allerdings auf der Strecke.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Wenn man den Briten Aled Davies, 25, einmal aus der Nähe gesehen hat, dann erübrigt sich die Frage, weshalb sie ihn zu Hause "The Bear" nennen, den Bären. Angeblich hat Davies im Trainingsprogramm der vergangenen zwei Jahre 32 Kilo abgespeckt. Davor muss er wie zwei Bären ausgesehen haben. Trotz seines, sagen wir, beeindruckenden Körpers und seines gelähmten rechten Beines bewegt sich dieser Koloss aus Cardiff leichtfüßig durch den Kugelstoßring. Geradezu grazil. Masse trifft Technik, das ist schwer zu schlagen. Am Montag im Olympiastadion von Rio flog seine Kugel 15,97 Meter weit. "War nicht ganz das, was ich mir erwartet habe", sagte Davies. Für die Goldmedaille hat es natürlich trotzdem gereicht - mit gut eineinhalb Metern Vorsprung.

Irgendwo zwischen den Stoppeln seines Turnierbartes war ein Lächeln zu erkennen, als er anmerkte, dass er gerne einen Weltrekord aufgestellt hätte. Er kann es aber auch verschmerzen, dass es diesmal nicht klappte. Davies hat seinen Weltrekord in diesem Jahr schon fünf Mal verbessert. 2012 bei den Spielen in London gewann er schon einmal Gold, damals allerdings mit dem Diskus. Er konnte seinen Titel nur deshalb nicht verteidigen, weil das Diskuswerfen in seiner Startklasse (F42 für "Oberschenkelamputierte und diesen Einschränkungen Gleichgestellte") diesmal nicht zum Programm gehört. Auch da hält er den Weltrekord.

Wenn man in zwei Disziplinen als nahezu unschlagbar gilt, dann trägt man natürlich auch als Bär einen gewissen Erwartungsdruck mit sich herum. Nach seinem ungefährdeten Sieg von Rio kämpfte Davies mit den Tränen. Er sagte: "Ich bin so froh, dass ich das Investment rechtfertigen konnte."

Großbritanniens Fördersumme für vier Jahre Spitzensport: 400 Millionen Euro

Weltweit, unter anderem auch in Deutschland, beschweren sich Athleten über die mangelhafte Spitzensportförderung, über ihre Schwierigkeiten, ihre Sportlerkarriere mit einer Ausbildung oder einem Beruf zu vereinen. Aus Großbritannien, wo sich die staatliche Agentur UK Sport um strategisches Investment in Medaillenkandidaten kümmert, hört man solche Klagen nicht. Aled Davies weiß, dass er als britischer Dauersieger zu den Privilegierten unter den behinderten Athleten gehört. Um Geld muss er sich keine Sorgen machen. Er wird gefördert wie die erfolgreichsten Olympiahelden seines Landes, die angeblich bis zu 75 000 Euro pro Jahr erhalten. Davies hat ein Team aus zwölf Trainern, Physiotherapeuten und persönlichen Agenten um sich herum. "Es gibt für mich keinen Vorwand, nicht der Beste zu sein", sagt er.

Nicht alle Zuschauer werden aus diesen Paralympics mit ihrem unübersichtlichen System aus Disziplinen und Startklassen schlau. Was man dabei aber sehr gut lernen kann, ist der ohnehin nicht ganz so komplexe Text der britischen Hymne. Bloß die chinesische wurde bislang in Rio noch häufiger gespielt. Während Davies in den Katakomben des Olympiastadions das Fördersystem in seiner Heimat pries, jubelte ein paar Kilometer entfernt in der Tischtennishalle schon der nächste Sieger vom Team GB. Wenig später in der Schwimmhalle kamen binnen 40 Minuten noch drei weitere Goldmedaillen sowie zwei Weltrekorde dazu. Der Montag hätte der Tag der Briten werden können.

Er wurde es nur deshalb nicht, weil der Sonntag schon der Tag der Briten war. Da hatten sie acht goldene Medaillen eingesammelt, dazu sechs silberne und zwei bronzene. Bei den Paralympics bestätigt sich gerade ein Trend, der sich schon während der Olympischen Spiele im August abzeichnete: Aus der angeblichen britischen Medaillenflut von den Spielen 2012 in London ist dauerhaftes Hochwasser geworden. Laut des Investmentplans von UK Sports sollen die Athleten vom Team GB diesmal 121 Medaillen von den Paralympics mit nach Hause bringen. Wenn es so weiterläuft, steht dem nichts im Wege. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe hatten sich bereits 77 angesammelt. Die Zahl 121 ist nicht ganz zufällig gewählt. Vor vier Jahren in London waren es 120.

Stetige Wachstumsvorgaben gehören zum Wesen der britischen Sportförderung. Und tatsächlich haben Großbritanniens Olympiateilnehmer in Rio noch besser abgeschnitten als vier Jahre zuvor bei ihren Heimspielen. Das ist seit dem Zweiten Weltkrieg keiner anderen Gastgebernation gelungen, nicht einmal den seit 2008 in Peking unheimlich erfolgreichen Chinesen. Der Geldfluss von UK Sport ist nahezu unerschöpflich, weil er sich aus den Einnahmen der britischen Lotterie generiert. Das System wurde nach der Blamage von Atlanta 1996 erfunden, als die Briten nur eine einzige Goldmedaille gewannen. Für den aktuellen vierjährigen Förderzeitraum stellt die Agentur dem olympischen und paralympischen Sport fast 400 Millionen Euro zur Verfügung.

Abgerechnet wird in Medaillenrendite. Wer mehr gewinnt, bekommt auch mehr Geld. Das Budget von Sportarten, die ihre Vorgaben verfehlen, wird dagegen radikal gekürzt. UK Sport fördert auch kaum Mannschaftsportarten, weil dort ja nur eine oder zwei Medaillen vergeben werden. Das Prinzip ist so brutal wie effektiv. Auf der Insel ist auch vom "financial doping" die Rede.

Manche Anti-Doping-Experten betrachten die britischen Erfolge mit Skepsis

Es gibt aber den nicht ganz unbegründeten Verdacht, dass dort nicht nur mit Fördergeldern gedopt wird. Der deutsche Sportmediziner Perikles Simon bezeichnete die Großveranstaltungen von Rio vor wenigen Wochen im SZ-Interview als "die gedoptesten Spiele aller Zeiten". Auch die Tatsache, dass die russischen Staatsdoper bei den Paralympics komplett ausgeschlossen sind, ändert daran vermutlich nichts. "Russland ist überall", sagte Simon. Explizit nannte er Großbritannien. Im Rahmen einer ARD-Enthüllung, in der es um Epo-Doping in einem kenianischen Höhentrainingslager ging, war neulich auch von britischen Kunden die Rede.

Was auch immer das Geheimnis der britischen Dauersieger bei den Paralympics sein mag, die zu Hause als "Superhumans", als Übermenschen vermarktet werden - die Chance, dass dieses Geheimnis in Rio gelüftet wird, ist gering. Das Internationale Paralympische Komitee hat soeben in bemerkenswerter Offenheit den Kollaps seines Kontrollsystems von Rio bekanntgegeben. Aus Geld- und Personalmangel gibt es demnach während der gesamten Veranstaltung lediglich 1500 Stichprobentest für 4300 Athleten. Nicht einmal alle Medaillengewinner können kontrolliert werden. Neben den Briten lassen bislang vor allem die Athleten aus China und der Ukraine die Rekorde purzeln - zwei Länder, die oft genug bewiesen haben, dass ihre Höchstleistungen nicht nur auf Trainingsfleiß zurückzuführen sind.

Der bärenhafte Kugelstoßer Aled Davies erklärt den britischen Goldrausch so: "It's all about the money." In diesem Fall wäre es mal ausnahmsweise beruhigend, wenn es ausschließlich ums Geld ginge.

© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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