Olympisches Leben:Kampf der Häuser

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Palast, Basar, Holzhütte samt Nikolaus: Noch nie konkurrierten derart viele Nationen darum, ein guter Gastgeber in den eigenen vier Wänden zu sein, wenn die Medaillen-Partys steigen.

Von Boris Herrmann

An einem Nachmittag in der ersten Olympiawoche hat sich vor dem Kulturzentrum des Gesundheitsministeriums von Rio de Janeiro eine Schlange gebildet, die bis zur Straße hinausreicht. Im öffentlichen Gesundheitssektor dieser Stadt sind längere Wartezeiten nichts Außergewöhnliches. In diesem Fall ist es jedoch so, dass hinter dieser Eingangstorwarteschlange schon die Innenhofschlange wartet. Sie schlängelt sich einmal über das Grundstück, ganz hinten um die Ecke und endet schließlich an einer Versorgungs-Station. Was könnte es da wohl geben? Freikarten für die Schlussfeier? Autogramme von Usain Bolt? Zika-Impstoff?

Eine gut gelaunte Brasilianerin zwischen 20 und 25 Jahren, die noch mindestens eine Dreiviertelstunde Wartezeit vor sich hat, sagt: "Espresso."

Das stimmt tatsächlich. Es gibt Espresso in Pappbechern. Wahlweise mit weißem oder braunem Zucker. Und sonst nichts.

Selbstverständlich handelt es sich nicht um irgendeine Bohne, sondern um die beste Röstung aus dem Hochland von Nariño. Und gewiss ist der Andrang auch damit zu erklären, dass diese Kaffeespezialität hier kostenlos ausgegeben wird. Hier im olympischen Gästehaus von Kolumbien.

Manchmal ist es so einfach, die Menschen zu begeistern. Aber das, was die Kolumbianer gerade im Zentrum von Rio veranstalten, um ihr von 50 Jahren Bürgerkrieg geplagtes Land in ein positives Licht zu rücken, ist hinsichtlich Aufwand und Ertrag kaum zu schlagen. Das Gebäude haben sie vom Gesundheitsministerium zur Zwischennutzung angeboten bekommen, es wurde gerade nicht gebraucht. Neben der Espresso-Zapfanlage im Hof gibt es drinnen noch einen kleinen Showroom zur Vielfältigkeit der kolumbianischen Kultur. Man kann dort landestypisches Porzellan bestaunen, Tässchen, Suppenteller, ein ganzes Kaffee-Service. Dazu: kolumbianische Kekse, kolumbianische Erdnüsschen und, klar, kolumbianische Kaffeepackungen (ganze Bohnen, gemahlen und Instant). Warum dafür jeden Tag mehrere Hundert Menschen anstehen, größtenteils Brasilianer? Vielleicht weil auch das eine Möglichkeit ist, an Olympia teilzunehmen.

Die Briten haben sich gewohnt stilsicher einen der schönsten Paläste von Rio gesichert

Es ist kein ganz neuer Trend mehr, dass sich die Nationen bei Olympischen Spielen in Häusern präsentieren. Die Österreicher haben schon 1984 in Sarajewo damit angefangen, die Deutschen 1988 in Calgary. Irgendwo zwischen Sydney und Peking wurde daraus eine Massenbewegung. Spätestens seit diesem Jahr kann man von einer eigenen Wettbewerbsgattung sprechen: olympischer Häuserkampf.

Die Briten haben sich, stilsicher, wie sie sind, einen der schönsten Paläste von Rio de Janeiro gesichert: die in den 1920er Jahren erbaute eklektizistische Villa im Parque Lage. Eigentlich ist hier eine renommierte Kunsthochschule untergebracht. Die britischen Mieter haben es irgendwie geschafft, dass die Studenten derzeit Olympiaferien machen.

Paris Penman Davies, der Marketing-Manager des Hauses, hat die Schule in ein kleines Großbritannien verwandelt. Die Eingangstreppe leuchtet jetzt in den Farben des Union Jack. Die drei exklusiven Hospitality-Bereiche sind jeweils mit Möbeln von 1908, 1948 und 2012 ausgestattet, den Jahren, in denen London die Spiele ausrichtete. Penman Davies sagt: "Wir wollen hier nur das Beste vom Besten zeigen. Wir stehen in Konkurrenz zu über 50 Häusern. So viele waren es noch nie."

Jedes Haus hat eine Botschaft. An der Türpolitik, am Unterhaltungsprogramm, an der Art der Gäste und wie sie bewirtet werden, lässt sich ablesen, was eine Nation über sich erzählen möchte. Die Schweizer haben mitten in der Tropenstadt Rio eine Eislauffläche aufgebaut, die Katarer einen orientalischen Basar, die Dänen eine Favela aus Lego. Die Finnen versuchen, mit einem Nikolaus in einer Holzhütte zu überzeugen, die Portugiesen mit einem alten Segelschiff. Die Deutschen haben gleich zwei Häuser, während alle Afrikaner eines gemeinsam nutzen. Die Amerikaner lassen gar niemanden rein, die Holländer nehmen 45 Euro Eintritt, bei den Kolumbianern bekommt jeder einen Gratis-Kaffee.

Zurück in die britische Besatzungszone im Parque Lage, es ist ja das erste Mal seit dem Brexit-Referendum, dass sich Großbritannien hier auf der großen Weltbühne präsentiert. Was ein Land, das sich gerade aus Versehen von Europa abschottet, der Welt zu sagen hat? Der Mann, der Paris heißt und in Rio London vermarktet, fasst seine Kernbotschaft so zusammen: "Wir sind so offen für Business wie noch nie."

Sie haben in ihrer Kunsthochschule also eine Start-Up-Messe für "high profile business leaders" organisiert. Hier braucht sich niemand in der Schlange anzustellen, der keine persönliche Einladung erhalten hat. Internationale Top-Manager, Meinungsführer und "key-figures" sollen sich hier vor allem vergnügen und vernetzen. Zum Wohle der britischen Handelsbeziehungen. Im Rahmenprogramm gibt es Shakespeare auf Portugiesisch, die neuesten Bands aus London und reichlich Gin. Das ändert allerdings nichts am Grundsatzkonzept. "Olympia ist für uns ein Kaufhaus-Schaufenster zur Welt", sagt Penman Davies. Viel unverkrampfter kann man mit der häufig beklagten Kommerzialisierung dieses Sportfestes nicht umgehen.

Wenn die für ihren Brexit verspotteten Briten sich zuletzt etwas missverstanden fühlten vom Rest der Welt, was sollen erst die Russen sagen? Auch die haben natürlich ein Haus in Rio, beziehungsweise einen Militär-Stützpunkt. Im alten Fort an der Copacabana hat sich das russische Olympiakomitee eingemietet. Das Gelände wird von einer Mauer umgeben, die mit den schönsten Szenen vom deutschen WM-Sieg in Rio von 2014 bemalt ist. Selbstverständlich haben die Zwischenmieter ein wenig umgeschmückt. Dort, wo sonst Philipp Lahm mit dem WM-Pokal zu sehen ist, stehen mobile Fassaden, die glorreiche russische Olympiasieger zeigen. Heldenverehrung, als ob sie etwas gewesen wäre.

Zu den Schmuckstücken des russischen Sportmuseums, das im Obergeschoss auf-gebaut wurde, zählt jene Vitrine, in der die 1957 zuletzt benutzen Sportschuhe des Sibirers Uwais Achtajew ausgestellt sind. Des größten Basketballers der Welt, wie es auf der Infotafel heißt. Achtajew (2,38 Meter) trug demnach die Schuhgröße 54, als er es mit der Sowjetunion zu olympischen Ehren brachte. In der Vitrine liegt auch ein jämmerlich klein aussehendes 30-Zentimeter-Lineal. Nur Spötter kämen bei diesem Anblick auf die Idee, dass in Russland sogar die Füße gedopt sind.

Die dezimierte russische Delegation reiste mit dem Modell eines begehbaren Flugzeugs an

Entgegen anders lautender Gerüchte, ist die Türpolitik im russischen Haus sehr entspannt. Jeder ist willkommen, um zu erfahren, wie eine große Sportnation zum Opfer einer Weltverschwörung wurde.

Jeden Abend tritt Alexander Schukow, der Chef des Nationalen Olympischen Komitees, im rot-weißen Trainingsanzug auf, um die neuesten Medaillengewinner zu ehren. Diesmal ist Olga Sergejewna Sabelinskaja dran, die Silbermedaillengewinnerin im Einzelzeitfahren. Ihre Großmutter Ludmilla wird auf der Videoleinwand live aus St. Peterburg zugeschaltet. Sie sagt: "Hier ist es mitten in der Nacht, aber ich kann vor Aufregung eh nicht schlafen." Schukow wettert dann noch ein wenig gegen "all die Missgunst in der Welt", und das Publikum skandiert "Danke! Danke!". Dann wird die Nationalhymne gesungen, die, das muss man schon sagen, immer noch die schönste der Welt ist.

Neben allerlei Matrjoschka-Figuren, Fellmützen für alle sowie reichlich Wodka und Baltika-Bier ist die dezimierte russische Delegation auch mit dem begehbaren Modell eines Flugzeugs der Zukunft angereist, dem "Sukhoi-Sportjet". Der Prototyp wurde vom "Innovations-Zentrum" des russischen Olympiakomitees entwickelt, und jetzt steht er zur allgemeinen Besichtigung direkt auf dem Felsen am Ende der Copacabana. Man soll bloß die Schuhe abputzen, damit der schöne Teppich nicht dreckig wird, sagt Irina Zelenkowa, 29. Sie ist so etwas wie die technische Innovationsministerin des russischen Sports. Wie hingepinselt steht sie an der Eingangstür dieses Wunderflugzeuges, perfekte Zähne, leuchtende Tigeraugen. Die Flugzeugkabine, die sie stolz präsentiert, ist mit einem Fahrrad-Ergometer ausgestattet, mit Massageliegen, fest installierten Messgeräten für Blutdruck- und Luftvolumen. Es ist ein fliegendes Fitnessstudio. "Unsere Sportler sollen sich auch in der Luft bestens auf den nächsten Wettkampf vorbereiten", berichtet Zelenkowa. Ist denn auszuschließen, dass dieser Kabine auch als fliegendes Dopinglabor benutzt wird? "Auszuschließen ist gar nichts. Wir leben nicht in einer perfekten Welt", sagt Zelenkowa. Ihr Jobprofil bestehe allerdings darin, einen wissenschaftlichen Weg zur Leistungsverbesserung anzubieten. Als Alternative zum "medizinischen Weg", wie sie das nennt. Am Ende müsse jeder Sportler selbst entscheiden, für welchen Weg er sich entscheide. Gibt es staatlich orchestriertes Doping in Russland? "Kann ich mir nicht vorstellen", sagt Zelenkowa.

Draußen auf der Showbühne leitet der Sportfunktionär Schukow zum gemütlichen Teil über. "So, und jetzt kommt ein Samba", ruft er. Die Band spielt Lambada.

Wenn es um das Unterhaltungsprogramm geht, ist man in anderen Nationen-Häusern wahrscheinlich besser aufgehoben. Etwa in dem Kolonialstil-Palast in der Avenida Venceslau Brás 72, der im Volksmund der Cariocas "Palacete" heißt. Es ist das denkmalgeschützte Klubheim des Fußball-Erstligisten Botafogo, erbaut 1927. Ein historischer, vielleicht sogar ein heiliger Ort für die Stadt, für den Weltfußball. Garrincha, den viele für den größten aller brasilianischen Spieler halten, noch vor Pelé, hat hier seinen ersten Profivertrag unterschrieben. Jetzt sind die Österreicher drin und machen Aprés-Ski.

"Are you ready for the Austrian House moooove?", ruft der DJ, der hier nicht hinter, sondern auf dem Pult steht. Das größtenteils brasilianische Partyvolk ist bereit. Also: alle Arme hoch! Rechts! Links! Rechts! Links! Dazu läuft "The Final Countdown" von Europe. Die Band stammt aus Schweden. Von Rio aus betrachtet liegt das durchaus in der Nähe von Österreich.

Ein sehr gut gelaunter Mann in Lederhosen und Joggingschuhen grüßt mit den Worten: "Guten Tag, ich bin der Michael Vesper von Österreich." Es ist Peter Mennel, Generalsekretär des österreichischen Olympiakomitees ÖOC. Der Hausherr.

Man kennt die Österreicher in der Umge-bung. Im Gegensatz zu anderen Nationen liegen sie mit ihrem "Austria House" mitten in einem Wohngebiet. Und sie sind dort auch nicht zu überhören. "Wir wollen uns öffnen für alle, für Passanten, für Brasilianer, für potenzielle Österreichbesucher", sagt Mennel. Das Konzept scheint aufzugehen. Offenbar denken sich viele Anwohner: Wenn ich eh nicht schlafen kann, kann ich mich auch in der Schlange anstellen. Neben dem Discostadl im Hof gibt es natürlich auch hier eine Vip-Zone. Weniger exklusiv als bei den Briten allerdings, ein Ausdruck österreichischer Gastfreundlichkeit soll es sein. Hier trifft die Tirolerstube auf die Ehrengalerie von Botafogo, das Wiener Schnitzel auf den Caipirinha. Und ja: Auch der Walzer auf den Samba. "Wir haben festgestellt, dass man das sogar gleichzeitig tanzen kann", erzählt Mennel. Die Österreicher produzieren eine tägliche Hauszeitung mit Titelgeschichten wie "Copacabana Rot-Weiß-Rot". Außerdem haben sie im Keller eine Bäckerei installiert, wo rund um die Uhr Mehlspeisen, Torten und Brote herstellt werden. "Die Athleten kommen sogar für ein Sackerl Kornspitze und nehmen sie mit ins Dorf", berichtet der Marketingleiter Florian Gosch. Das Athletendorf liegt 30 Kilometer entfernt. Nicht ohne Stolz verweist man im Austria House darauf, dass hier jeder Medaillengewinner gefeiert wird, egal aus welchem Land er stammt. "Wenn hier einer mit einer Plakette reinkommt, kriegt er ein Fest", sagt Gosch. An diesem Abend steht plötzlich Prinz Frederik von Dänemark mit Freunden in der Tür. Auch dem ist nicht entgangen, dass die Österreicher mal wieder das fröhlichste Haus von allen betreiben. In dieser Disziplin sind sie Rekordolympiasieger. Der Kronprinz hat keine Medaille dabei, aber als IOC-Mitglied wird ihm zu Ehren natürlich trotzdem ein Fest improvisiert. "Mach' mal schnell fünf Caipirinha", ruft Gosch hinter die Theke. Eine Sache noch, der brasilianische Fußball steckt ja mitten in der Saison. Dass da ein Erstligist bei laufendem Spielbetrieb sein Klubheim räumt, damit die Österreicher ihre Gastfreundschaft demonstrieren können: Wie geht eigentlich so was? "Wir haben es gemietet", mehr will Gosch nicht verraten. Botofogo jedenfalls ist heillos verschuldet, man darf davon ausgehen, dass das ÖOC ein Angebot machte, das der Krisenklub nicht ausschlagen konnte. Als Rausschmeißer spielt der DJ jeden Abend Rainhard Fendrichs "I am from Austria". Gosch behauptet: "Das ist hier inzwischen ein Klassiker in Botafogo. Alle Brasilianer singen mit." Wenn man sich zum Ausklang dieses Abends in die Partymenge mischt, stellt man fest, dass er da zumindest ein kleines bisschen übertreibt. Man verlässt diesen so sympathischen wie bizarren Ort mit der irgendwie auch ganz beruhigenden Erkenntnis: Es sind immer noch ein paar Brasilianer übrig, die "I am from Austria" nicht auswendig können.

© SZ vom 12.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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