Olympische Spiele 2008:Ein Podest für den Protest

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Geht es um Menschenrechte, offenbart sich ein Konflikt der Generationen: Die Athleten wollen Zeichen setzen, die Funktionäre lieber schweigen.

Von Holger Gertz

Die Keimzelle des sanften Widerstands hat eine Anschrift in Augsburg. Werner-von-Siemens-Straße 6, Haus 01d, ein noch nach frischer Farbe riechendes Büro in einem Gründerzentrum für IT-Unternehmen. Junge Menschen starren in Bildschirme, Handys klingeln. Etwas Neues wächst, das dem Publikum dann im Internet zugänglich gemacht wird. Die Mitarbeiter in Haus 01d haben einen Menge zu tun, so viel, dass man vermuten könnte, sie würden sich zwischendurch von dem ernähren, was der Italiener von nebenan per Bringdienst hastig herankarrt, aber leere Pizzakartons liegen nirgendwo herum. Sportler sind darauf trainiert, gerade bei Stress auf ihre Ernährung zu achten.

Athleten wie der Kanute Stefan Pfannmöller haben sich im Sportnetzwerk zusammengeschlossen. (Foto: Foto: dpa)

Sportler haben hier eine Webseite entwickelt, ein Projekt, das eigentlich dazu gedacht war, sich über Trainingsinhalte auszutauschen und sich gegenseitig Urlaubsfotos zu zeigen. www.netzathleten.de war eine Idee, geboren aus dem Bedürfnis, zu kommunizieren und sich wahrgenommen zu fühlen, aber inzwischen ist die Seite zu einer Plattform geworden, auf der sich Sportler darüber austauschen, wie sie sich verhalten sollen bei den Olympischen Spielen in einem Land, das die Menschen in Tibet so grausam unterdrückt.

China ist längst das Thema der Netzathleten, und Stefan Pfannmöller sagt, wenn er von den enormen Mengen an Klicks redet, die sie registriert haben in den letzten Tagen, dann soll das nicht zynisch klingen. Er, einer der Gründer des Portals, will nicht, dass er am Ende rüberkommt wie jemand, der vom Elend der Menschen in Tibet profitiert. Er will mit den Netzathleten etwas tun für die Tibeter. Dass so viele andere Sportler auch was tun wollen, hat ihn vielleicht weniger überrascht als die Sportkonsumenten da draußen, die glauben, Sportler dächten nur daran, wie sie am schnellsten von da nach dort rennen oder wie sie sich ein Medikament besorgen, das sie noch schneller irgendwo ankommen lässt. Das Image der Leistungssportler ist nicht besonders.

Stefan Pfannmöller weiß das, er war bis vor einem halben Jahr selbst einer. Disziplin Kanuslalom, 1,85 groß, 80 Kilo schwer. Ein Kreuz wie ein Schrank. Bei den Olympischen Spielen in Athen vor vier Jahren hat er Bronze gewonnen. Bei der Siegerehrung wurde ihm ein nachgemachter Lorbeerkranz ins Haar gedrückt, so einer, wie ihn die Athleten der Antike verpasst bekamen. Ein starkes Symbol. Wer bei Olympia was gewinnt, ist ein Held, auch wenn die Masse da draußen jemanden schnell vergisst, der nur Kanufahrer ist und nur Dritter wird. Aber Pfannmöller sagt, für ihn, den Sportler, waren das unvergessliche Tage in Athen. "Ich bin ein richtiger Olympia-Fan."

Als sie bei der Eröffnungsfeier ins Stadion kamen, in einen Kessel voll jubelnder Menschen, bollerte es in seinem Magen, es war ein Gefühl, das man sonst nur hat, wenn man verliebt ist oder in der Achterbahn nach unten rauscht. Sogar seine Uniform, die ihm wie allen anderen Sportlern extra für diese Eröffnungsfeier geschneidert worden war, hat ihm gefallen in diesem Augenblick, obwohl er sie eigentlich total unmodern findet und sie danach nie mehr angezogen hat. Es gibt Momente, die kann man nicht zurückholen.

Darf man Solidaritäts-Armbänder anziehen oder nicht?

Darum geht es auf der Internetseite der Netzathleten. Um die Bereitschaft zum Verzicht auf einen großen Moment, um Moral, um Haltung und all das. Sollen die Sportler nicht nach Peking fahren, weil die Chinesen den Aufstand der Tibeter niedergeschlagen haben? Olympiakandidaten diskutieren mit Freizeitsportlern. Boykottieren will keiner. Aber einige wären bereit, ihren Auftritt bei der Eröffnungsfeier zu streichen.

Ein winziges Opfer, angesichts der verzweifelten Lage in Tibet, weiß der Mensch Pfannmöller. Ein großes Opfer, weiß der Sportler. "Da wird dem Athleten auf jeden Fall etwas genommen, aber vielleicht ist es das den Sportlern wert." Viele schreiben, dass sie Armbänder tragen wollen, grün-blaue Silikonbändchen, als Zeichen der Solidarität mit Tibet. Es ist nicht klar, ob sie das dürfen und wo, das Internationale Olympische Komitee duldet keine politischen Statements bei den Spielen. Wer gegen die Regel verstößt, kann bestraft werden. "Die Wirkung vorauszusagen, ist schwierig", sagt Pfannmöller, "aber ich finde, das mit den Armbändern ist eine der sinnvollsten Aktionen, die man sich vornehmen kann."

Olympische Spiele
:Von wegen unpolitisch

"Das IOC hat kein politisches Mandat", sagt der stellvertretende IOC-Chef Thomas Bach - und macht es sich damit ziemlich einfach. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Olympischen Spiele nie unpolitisch waren. Eine Bildergalerie

Er ruft im Laptop die Seite auf mit den Zuschriften der Sportler. Einer schreibt: "Ein wichtiges Zeichen ist ein Fernbleiben bei der Eröffnungsfeier, damit zeigen wir Sportler, das wir in China sein müssen, es aber nicht wollen." Eine schreibt: "Prinzipiell finde ich die Idee nicht schlecht, Armbänder zu tragen, bzw. so zu demonstrieren, dass uns das Thema nicht egal ist und wir nicht nur dumpfe Sportler sind." Einer schreibt: "Eure Plattform ist gerade dabei, die Gewissenlosigkeit der Offiziellen (Rogge, Bach u. Konsorten) wieder auf die Füße der sozialen Verantwortlichkeiten zu stellen und die Minimalerwartung an die Olympischen Spiele, die nicht deckungsgleich sein dürfen mit Kommerz und Rekordstreben, mit persönlicher Verantwortung hochzuhalten."

So kennt man Stefan Pfannmöller: als erfolgreichen Kanuten. Nun kritisiert er DOSB-Generalsekretär Vesper. (Foto: Foto: AFP)

Eine Art Grundsatzerklärung. Ein bisschen schief formuliert, aber die Konfliktlinien werden genannt. Die Funktionäre, die die Spiele nach Peking vergeben haben, gegen die Sportler, die reagieren müssen. Die Spiele der Sportler gegen die der Wirtschaftsleute, die mit diesen Spielen Geld verdienen oder sie zu nutzen versuchen, für ihre Zwecke.

Eine romantische Idee

Die Sportler, sagt Pfannmöller, hängen der romantischen Idee an. Er spricht vom Olympischen Dorf, in dem alle gemeinsam wohnen, alle Rassen, Nationen, Religionen. Das Olympische Dorf ist in seiner Schilderung wie ein Ort im Paradies. Pfannmöller hat BWL studiert, er ist nicht der Typ Träumer, aber er wird zum Schwärmer beim Thema Olympia. "Ein Sportler denkt halt gern naiv und einfach. Er betrachtet die Welt aus Kinderaugen, und das ist vielleicht richtig manchmal." Auch deshalb wollen sie diese Bänder tragen, auch deshalb wollen er und Stefan Kretzschmar, der Handballer, nach Peking fahren und journalistische Fragen stellen, auch zum Thema Tibet. Vielleicht finden sie einen Sender, der das bringt, sonst bleibt ihnen ihre Internetseite, eventuell ein täglicher Blog. Vieles ist denkbar in der Theorie.

In der Praxis hat sich Michael Vesper, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes DOSB, gegen Protestaktionen deutscher Sportler bei den Spielen ausgesprochen. Vesper kommt aus der Politik, in Nordrhein-Westfalen war er stellvertretender Ministerpräsident.

"Das fand ich schwach von Herrn Vesper."

Stefan Pfannmöller ist kein Politiker. Er sagt: "Das fand ich schwach von Herrn Vesper. Ich hätte vom DOSB erwartet, dass er sich nicht gegen seine Athleten stellt."

Das Internationale Olympische Komitee ist, mehr noch als der DOSB, ein Klub alter Männer. Die alten Männer richten Spiele für sich selbst aus, aber offiziell für die Jugend der Welt. Dieser Widerspruch findet sich in der ganzen Debatte. Die Sportler, jedenfalls die aus dem freien Teil der Welt, stammen aus der Generation Bionade. Die Generation verehrt Al Gore und Barack Obama.

Sie will am Computer daddeln, ist aber sehr daran interessiert, dass dieser Computer mit Ökostrom gespeist wird. In den Lebensentwürfen dieser Generation verbindet sich beides: genießen wollen und moralisch handeln. Sich den Traum von Olympia erfüllen, aber trotzdem sagen, dass China die Menschenrechte missachtet. Die deutschen Wasserballer wollen sich Bademäntel in den Farben tibetischer Mönchskutten überziehen.

Die Stabhochspringerin Anna Battke hat überlegt, dass man als Mönch verkleidet an der Eröffnungsfeier teilnehmen könnte. Sie sieht die Welt aus Kinderaugen, und es wirkt naiv und sympathisch. Bei der vergangenen Weltmeisterschaft hat sie sich mit Filzstift den Slogan "Stop doping" auf den Bauch gemalt. Das Bild ist beinahe schon Ikone, Kennzeichen für den Protest ihrer Zeit. Die aktuelle Generation der Sportler hat ein Gefühl für Botschaften - und für die Wege, auf denen man sie unter die Leute bringen kann. Die Funktionäre, die sich im Moment jeder Botschaft an China enthalten, wirken dagegen halsstarrig und taktierend. Wie jene Politikerkaste, deretwegen der Begriff Politikverdrossenheit in die Wörterbücher aufgenommen worden ist.

Stefan Pfannmöller sagt: "Ich bin der Meinung, dass sich beim IOC oder DOSB keiner einen Zacken aus der Krone bricht, wenn er sagt: Die Achtung der Menschenrechte ist gut."

In Potsdam macht Kathrin Boron das, was sie alle vier Jahre tut, wenn es langsam wärmer wird und die Ausscheidungsrennen für die Olympia-Qualifikation schon einen Termin haben: Sie bringt sich in Form. Ihr Leben im Wasser ist ein Leben im Boot. Ihr Leben an Land ist ein Leben im Bootshaus. Sie muss Krafttraining machen. Sie muss das Gefühl für das Wasser neu entdecken. Sie muss in sich hineinhören, ob es nochmal reicht. Der Bogen ihrer Karriere spannt sich über Jahrzehnte, auf ihrer Homepage ist ein Foto, auf dem sie noch im DDR-Trainingsanzug zu sehen ist. Sie war länger verletzt gerade, es wird ein harter Weg bis Peking. Sie hat in sich hineingehört. Sie sagt, es reicht noch einmal. Wenn es auf Großereignisse zugeht, trainiert sie am Tag fünf Stunden.

Die Exotin unter den Netzathleten

Sie ist 38 jetzt und hat bei den vergangenen vier Spielen im Rudern immer Gold geholt, im Doppelzweier oder Doppelvierer. Sie hat etwas zu verlieren in diesem Jahr, anders als Stefan Pfannmöller, der kein Aktiver mehr ist. Oder sie hat etwas zu gewinnen, das fünfte Gold. Sie könnte die erfolgreichste Frau im Ruderboot aller Zeiten werden. Ihre Ruderblätter sind schwarz-rot-gold lackiert, sie rudert für ihr Land, aber sie rudert auch für sich. Sie hat alles auf diese Olympia-Teilnahme abgestimmt, der Arbeitgeber hat sie freigestellt, aber trotzdem fällt sie jeden Abend wie tot ins Bett, sagt sie. Sie ist nicht nur Sportlerin, auch Mutter einer kleinen Tochter. Cora ist jetzt fünf.

Kathrin Boron ist hager, die Wettkampfhärte spiegelt sich in ihrem Äußeren und - wie bei vielen Ruderern - in dem, was sie sagt. "Ich bin eine mündige Athletin und lasse mir keinen Maulkorb verpassen", sagt sie. Sie hat sich auf ihre Weise vorbereitet auf die Spiele, gerade hat sie ein Buch über China gelesen, es heißt "Wilde Schwäne" und beschreibt chinesische Frauenschicksale über Generationen. Sie hat verstehen wollen, warum es diese Tragödie jetzt gibt in China. Den Netzathleten ist sie schon vor knapp einem Jahr beigetreten, und als die Debatte dann politischer wurde, hat sie sich nicht entzogen, vielleicht ist das überraschend bei einer Sportlerin, die noch in der DDR sozialisiert worden ist.

Kathrin Boron ist eine Exotin unter den Netzathleten, aber was sie sagt, unterscheidet sich nicht von dem, was Pfannmöller sagt. "Der Sportler wird benutzt im Moment", sagt sie, "er wird gefragt, man erwartet von ihm eine Meinung. Aber am Ort des Geschehens wird er dann in einer Zwickmühle sein. Wenn er was tut, verstößt er gegen die Regeln. Wenn er nichts tut, gilt er als unmoralischer Egoist." Sie will nicht hilflos rudern müssen. Sie wünscht sich Antworten von den Offiziellen. Aber sie wartet vergeblich.

Bhaichung Bhutia hat nicht länger gewartet, er hat sich entschieden zu verzichten. Nicht auf die Spiele, die indische Fußballnationalmannschaft, deren Kapitän er ist, hat sich nicht qualifiziert. Aber auf den Auftritt als Fackelläufer. Bhaichung Bhutia ist als Fußballer so gut, dass er bei den englischen Spitzenvereinen Fulham und Aston Villa schon mal zum Probetraining eingeladen war. Er trägt die Nummer 15, in Indien ist seine 15 so berühmt wie auf der Welt die 10 von Maradona und Pele. Er ist Buddhist, Werbegesicht der Sportartikelfirma Nike, ein Star. Daheim in Sikkim, einer Region im Himalaya, haben sie ein Stadion nach ihm benannt.

Er hätte die Fackel im April durch Delhi tragen sollen, aber das wäre über seine Kraft gegangen. "Ich dachte, ich sollte in dieser Situation an der Seite der Tibeter sein." Seine Entscheidung teilte er per Fax dem Nationalen Olympischen Komitee von Indien mit, dessen Generalsekretär Randhir Singh den Empfang bestätigte und keinen weiteren Kommentar abgab. Randhir Singh ist Funktionär. Bhaichung Bhutia ist Sportler.

Magath trägt die Fackel, andere lehnen es ab

Der Fußballtrainer Felix Magath, Coach der Mannschaft aus der VW-Stadt Wolfsburg, hat die Fackel ein paar hundert Meter durch Athen getragen. Es wäre ein Zeichen gewesen, sie nicht zu tragen. Aber VW stellt die Begleitfahrzeuge für den Fackellauf.

Stefan Pfannmöller sitzt in einem Büro voll Kommunikationstechnologie, er verbringt viele Stunden dort, aber alles erreicht ihn trotzdem nicht. Er hat von dem Fußballer aus Indien noch nicht gehört und nur am Rande von diesem deutschen Funktionär, der gerade gesagt hat, dass Sportler von den Spielen ausgeschlossen werden könnten, wenn sie offen gegen Chinas Tibet-Politik protestieren. "Ist so ein Älterer, glaube ich. Ich habe den Namen vergessen."

Walther Tröger heißt der Mann, deutsches Mitglied des IOC. Tröger wird im nächsten Jahr 80.

Hilfe vom Rechtsbeistand nötig

Eigentlich gehören sie beide zur olympischen Familie, der hohe Würdenträger Tröger und Pfannmöller, der Medaillengewinner. Aber da ist nichts, was sie verbindet.

Während des Gesprächs klingelt dauernd Pfannmöllers Handy. Er schaut auf das Display und liest die Nummer. Er weiß, wem sie gehört, offenbar ruft der Mensch öfter bei ihm an. "Unser Rechtsbeistand", sagt er.

Er kann sich vorstellen, um was es geht. Um ein Symbol, immer geht es um Symbole. Auf ihrer Webseite ist ein Bild zu sehen, eine Komposition. Das olympische Logo von Peking, mit Handschellen überdeckt.

Ein drastisches Symbol? In China werden die Menschenrechte verletzt, die Pressefreiheit wird beschnitten, es geht in der Debatte um eingeschüchterte, eingesperrte Tibeter, es geht um tote Mönche. Gemessen an dem, was geschehen ist, sind Handschellen ein harmloses Symbol für das Böse der Welt. Gesehen aus Kinderaugen.

Aber das olympische Logo ist als Markenzeichen geschützt. Inzwischen kann man das Bild mit den Handschellen bei den Netzathleten nicht mehr sehen. Pfannmöller hat es von der Seite genommen. Der Rechtsbeistand hatte ihm dringend dazu geraten.

© SZ vom 05.04.2008/aum - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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