Olympia 2014:Sotschi und das Nichts

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Im Endspurt zur Städte-Kür für die olympischen Winterspiele 2014 hat der russische Bewerber Sotschi viele Brandherde zu löschen.

Thomas Kistner, Guatemala-City

Heute Ausflugstag: Die Russen laden ins Hotel, es liegt in Zone Neun. Also endlich raus aus Zone Zehn, dem Geschäftsdistrikt, der in dieser Schicksalswoche die olympische Familie beherbergt und einem einzigen Exerzierfeld gleicht. Zu Fuß die paar Meter rüber in den nächsten Stadtteil - aber stopp: "Nehmen Sie den Bus! Bitte", flehen zwei Hostessen Sotschis, die vorm Tagungszentrum patrouillieren. Na gut; acht Minuten Bustrip ins urbane Abenteuerland von Guatemala-City, dennoch haben die Russen einen respektheischenden Aufpasser mitgeschickt: Tunnelblick, Vierkantschädel, ein Kleiderschrank in weißblaurotem Bewerber-Shirt. Rein ins Hotel und in Sotschis Vorführsaal El Dorado, wo neun Kristalllüster im Ausmaß mittlerer Windkrafträder die Decke strapazieren und fingerdicke Teppiche die schweren Schritte des Personals schlucken, das noch die Spuren der letzten Nacht im Gesicht trägt. Da hatte Sotschi tüchtig gefeiert, Zuchtmeister Putin kam ja erst Montag.

Wladimir Putin ist nach Guatemala gereist, um persönlich für Sotschi zu werben. (Foto: Foto: Reuters)

Nun gilt es: Endspurt der Bewerber. Auf der Bühne sitzen Kampagnenchef Dimitri Chernyschenko und IOC-Mann Vitali Smirnow, dessen Chronique Scandaleuse diesen Rahmen sprengen würde. Aber der daneben - ist das nicht der T-Shirt-Bulle aus dem Bus? Vjatscheslaw Fetisow steht auf dem Schild, zweimal Eishockey-Olympiasieger mit der sowjetischen Auswahl und heute Russlands Sportminister.

Die Gruppe lässt die Köpfe hängen und verbreitet kollektiv Trübsinn, was aber daran liegt, dass sie ihre Texte vom Teleprompter ablesen, der am Fuße des Podests auf dem Boden steht. Die Presse soll ihn nicht sehen, die Vortragenden sehen ihn leider auch kaum. Bevor Minister Fetisov in freier Rede auf diverse Stanley-Cup-Triumphe mit den Detroit Red Wings zu sprechen kommt, präsentiert Dimitri erstmal die "Blaupause des Erfolgs" für Sotschis Kür am Mittwoch bei der IOC-Abstimmung über den Winterspielort 2014. Die Russen offerieren alles, im Bedarfsfall sogar dopingfreie Spiele, was nicht weiter schwer fällt: Ihr Wintermärchen ist vorläufig ein virtuelles, zwischen den Palmen des Schwarzmeers und Kaukasiens Höhen existiert das schiere Nichts, was viel dichterische Freiheit erlaubt. Diese lässt Dimitri - auf ketzerische Nachfrage eines US-Journalisten - in der Erklärung gipfeln, Sotschi sei trotz der Nähe zu Tschetschenien und Abchasien "eine der sichersten Regionen der Welt". Weil es Putins Sommersitz beherberge, und weil "Russland dafür bekannt ist, dass es höchste Sicherheitsstandards garantieren kann". Fragen?

Es ist nicht einfach in diesen letzten Stunden vor der Kür, den Ruch des Spielverderbers loszuwerden. Zu viele Brandherde müssen die Russen löschen. Kleine, wie den Anpfiff durch die olympische Ethikkommission, die ihnen untersagte, IOC-Mitglieder auf ihre Eisfläche neben dem Tagungshotel zu führen. Und größere, wie die Ankündigung, dass der Energieriese Gazprom ins olympische Topsponsorenprogramm einsteigt - noch hat darüber das IOC zu befinden. "Ein Missverständnis", sagt Dimitri und lächelt, ,,Gazprom hat nichts damit zu tun." Und nach der Kür? "Wird man sehen." Bekannt ist aber, was passiert, wenn Sotschi scheitert. "Dann kann ich hier Asyl beantragen", sagte Smirnov mit der Passion eines Sprechautomaten, weshalb unklar blieb, ob das als Witz gemeint war.

Geht es nach Pyeongchang, können die Russen schon die Antragsformulare ordern. Montag ging in Bewerberkreisen die Rede, südkoreanische Nachrichtendienstler streuten im Interconti-Hotel Details über russische Praktiken im Umgang mit Tschetschenien und mit unbotmäßigen Journalisten. So was kann ins Auge gehen, zumal Putin höchstselbst plötzlich in der Nobelherberge aufkreuzte: Sein Plan, IOC-Mitglieder in einer eigens erworbenen Villa zu empfangen, zerschlug sich im letzten Moment, weil derlei Audienzen den Olympiern nur in ihrem Hotel gestattet sind. Also begab sich Russlands stolzer Herrscher Montagnacht in die Spur von Österreichs Kanzler. Alfred Gusenbauer hatte schon tags zuvor mit den Honneurs begonnen.

Und die favorisierten Koreaner? Sind im Endspurt mit sich selbst beschäftigt. Nach jeder Pressekonferenz in Guatemala tut sich ein Abgrund an Landesverrat auf, weshalb die Zeitung Joong Ang Ilbo von konkreten Schreibhilfen berichtet, die Pyoengchangs Bewerberchef Seung-soo Han und Provinzgouverneur Jin-sun Kim im Stammhotel Holiday Inn den Heimatreportern andienten: Zu vermeiden sei alles, was IOC-Mitglieder verstimmen könnte, auch Despektierliches über andere Bewerber, Spekulatives zum Votum sowie Erkenntnisse "über Pyoengchangs Strategie". Als zur Abrundung der Ukas erging, alles in Guatemala strikt "aus Sicht der Bewerber" und zum Wohle des nationalen Zieles zu betrachten, warf ein renitenter Reporter die Frage der Pressefreiheit auf. Tags darauf ging Pyoengchang auf Nummer Sicher und setzte zwei Pressetermine an: Einen für die internationalen Medien, bei der elfenhafte, funktional nicht näher definierte "Ehrenbotschafterinnen" die Gäste übers Parkett flankierten, danach eine für das eigene unpatriotische Pack.

Szenekenner halten die Nervosität in Südkoreas Lager für übertrieben. Tatsächlich haben die milliardenschweren Chaebols - in Russland heißen sie Oligarchen - ihre Arbeit längst getan, unter Stabsführung des Elektroriesen Samsung, dessen Boss Kun He Lee zufällig selbst im IOC sitzt. Weshalb allgemein erwartet wird, dass jüngst nicht nur 40 Millionen Dollar in mildtätige Sportprojekte flossen, sondern auch, dass sich das Gros der mäßig wintersportlichen IOC-Leute aus Afrika und Lateinamerika auf die Seite der "Friedensspiele" schlagen werden. Ein schönes Argument gibt es ja dafür: Südkorea will in Pyoengchang 2014 ein Team mit Nordkorea bilden. Aber warum nur dort?

Petersburg baut sich auf

Die Vertreter der Fernseh- und der Marketingruppe im IOC sind mehrheitlich für Salzburg, schon, weil der US-Olympiasender NBC hier seine Priorität setzt. Pro Austria ist auch manch wertebewusstes Mitglied, das lieber Spiele mit Ambiente hätte als eine meistbietend versteigerte Retortensause. Und Sotschi bearbeitet jeden, der ansprechbar ist - im Hintergrund baut sich derweil schon der Kandidat Petersburg auf, Putins Heimatstadt und Trumpfas für 2016. NOK-Mitglied Vladimir Khozin erklärte bereits, der Kampf um Olympia gehe weiter, falls Sotschi scheitert.

Aber ans Scheitern denkt keiner in Guatemala-City, wo sowieso stets Alarmstufe eins herrscht. Und die Gäste gewöhnen sich schnell ein. Kanzler Gusenbauer joggt im Begleitschutz von Motorrädern und mitlaufenden Sicherheitsleuten, Eistanz-Olympiasieger Jewgeni Pluschenko posiert ausdauernd für die Kameras vor einem Militär-Truck mit aufgepflanztem Maschinengewehr. Nichts zu sehen von den Maras, wie die Killerbanden hier genannt werden. Es lebe der Sport.

© SZ vom 4.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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