Olympia ohne russische Leichtathleten:"Historische Stunde für den internationalen Sport"

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Weltverschwörung? Der russische Sportminister Vitaly Mutko sieht sich und den russischen Verband ungerecht behandelt. (Foto: Yuri Kochetkov/dpa)

In Deutschland wird der Olympia-Ausschluss russischer Leichtathleten begrüßt, die Russen wittern einen Komplott. Die finale Entscheidung steht aber ohnehin noch aus.

Von Johannes Knuth, Kassel

Der Sportfunktionär Witali Mutko aus Russland ist ein Mann mit vielen Talenten. Mutko besitzt die Gabe, wichtige Ämter zu häufen (Sportminister, Fifa-Exekutivmitglied, Organisations-Chef der Fußball-WM 2018). Eindrucksvoll auch seine Bilanz bei den Winterspielen 2010 in Vancouver: Mutko soll damals während drei Wochen in seinem Hotel 97 Frühstücksgedecke geordert haben, im Gegenwert von 4500 Dollar.

In diesen Tagen ist Mutko vor allem als Sportminister seines Landes gefragt, er besticht beständig mit Aussagen, die zwar irgendwie originell, mit Fakten aber nur entfernt verwandt sind. Nachdem der Leichtathletik-Weltverband IAAF am Freitag die russischen Athleten kollektiv von den Olympischen Spielen in Rio verbannt hatte, wegen einer "tiefwurzelnden Toleranz für Doping und Betrug" setzte Mutkos Sportministerium folgende Botschaft ab: Das Urteil sei "beispiellos. Die Träume vieler unserer Sportler sind wegen des falschen Verhaltens einzelner Athleten, Trainer und Experten zerstört worden". Ach ja?

Am Tag nach der "historischen Stunde für den internationalen Sport", wie Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands, am Samstag befand, zog sich, wenig überraschend, eine dicke Linie durch die Leichtathletik: zwischen Russland und dem Rest. Die russischen Leichtathleten sind der zweite Fachverband überhaupt, der wegen massiver Dopingverfehlungen von Olympia ausgeladen wird; zuletzt hatte es bereits die bulgarischen Gewichtheber getroffen. Zwar hatte die IAAF am Freitag eine Hintertür geöffnet, einen winzigen Spalt: Wer zuletzt außerhalb des kontaminierten Verbandes gewirkt hat und getestet wurde, darf sich um einen Startplatz in Rio bewerben, unter neutraler Flagge. Dafür kommen aber wohl höchstens vier, fünf Athleten in Frage. Unter anderem Julia Stepanowa, die russische 800-Meter-Läuferin. Ohne Stepanowas Aussagen und heimlich gefilmte Videos vor knapp zwei Jahren in der ARD wäre der massive Betrug wohl niemals aufgeflogen.

Russische Medien deuten den Bann als Komplott des Westens

Die Reaktionen aus Moskau fielen stürmisch aus. "Unfair" war noch eine der gemäßigteren Auskünfte, Staatschef Wladimir Putin brachte ihn vor. Andere Funktionäre, Medien, auch Athleten deuteten den Bann als Komplott des Westens. Was, milde gesagt, bizarr ist, es waren ja Funktionäre auf allen Ebenen, auch aus dem Staatsapparat, die den Betrug orchestriert hatten, mehrfach dokumentiert durch Berichte der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada. Das führte wiederum zu unterhaltsamen Aussagen, die im jüngsten Untersuchungsbericht der IAAF auftauchten. Demnach bezeichnete Russlands Leichtathletik-Cheftrainer Juri Borsakowski die Wada-Berichte über eine "tiefwurzelnde Kultur des Betrugs" als "gegenstandslos". Borsakowski musste kurz darauf allerdings zugeben, die entsprechenden Berichte nie gelesen zu haben.

DLV-Präsident Prokop war die Genugtuung anzumerken, als er am Samstag im Vorfeld der nationalen Meisterschaften in Kassel seine Einschätzungen vortrug. "Ein guter Tag für die Glaubwürdigkeit des Sports", sagte Prokop. Er betonte noch einmal, dass man natürlich einzelne Athleten unter kollektive Strafe stellen könne, zumindest, wenn der entsprechende Verband systemisch kontaminiert sei. Oder andersherum gefragt: "Wie will man individuell über die Schuld von Athleten richten", fragte Prokop, "wenn in einem System nachweislich systematisch manipuliert wird?"

Am Dienstag trifft sich das IOC - um "Nominierungsprozesse zu harmonisieren"

Das finale Urteil darüber, ob und wie das Urteil der IAAF aufrechterhalten wird, steht freilich dem Internationalen Olympischen Komitee zu, das hat das Hausrecht bei Olympia. Und aus diesem IOC drangen am Samstag schon mal interessante Signale. Man respektiere Russlands Bann "voll und ganz", hieß es in einer Mitteilung. Es sei auch Sache der IAAF, Athleten für Rio vorzuschlagen, sprich: Wer über welche Hintertür noch nach Rio schlüpfen darf, entscheidet erst einmal der Weltverband. Das klang so, als hänge sich der obere Hausherr an das Urteil seines wichtigsten Fachverbands. Allerdings kommt das IOC am Dienstag noch einmal zusammen, um "Nominierungsprozesse" für Rio zu "harmonisieren." Und da ist es zumindest nicht ausgeschlossen, dass das IOC und sein Präsident Thomas Bach, der sich gerne mit der einflussreichen Sportnation Russland gut stellt, den Bann aufweichen.

Gleichzeitig könnte bald noch mehr Unrat in die Öffentlichkeit gespült werden. Der Kanadier Richard McLaren untersucht im Auftrag der Wada derzeit die Vorwürfe des ehemaligen Moskauer Laborleiters Grigori Rodtschenkow. Der hatte im Mai geschildert, wie Russland bei den Winterspielen 2014 in Sotschi im großen Stil Dopingproben manipuliert haben soll, mithilfe des Geheimdienstes. McLaren servierte am Samstag nun quasi einen Appetithappen aus seinem Bericht, den er Mitte Juli vorstellen will. Russlands Sportministerium - geleitet von einem gewissen Witali Mutko - soll vor der Leichtathletik-WM 2013 in Moskau angeordnet haben, positive Dopingproben vor, während und nach der WM nicht zu veröffentlichen. Prokop sprach im Lichte von Berichten, wonach Kontrolleure in Russland zuletzt massiv behindert worden waren, von einem "Problem des gesamten russischen Sports", mehr noch: "Das IOC ist gut beraten, ob die jüngsten Erkenntnisse nicht Anlass geben, über den Ausschluss aller russischer Sportler in Rio nachzudenken."

Das IOC ließ noch wissen, dass man sich am kommenden Dienstag auch mit Ländern beschäftigen werde, deren Anti-Doping-Agenturen zuletzt suspendiert worden waren, zum Beispiel Kenia. Dann droht nach der erfolgreichsten Nation der Leichtathletik-WM 2013 (Russland) auch dem besten Verband der WM 2015 das Olympia-Aus.

© SZ vom 19.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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