Oliver Bierhoff:"Kahns Rede war ein Befreiungsschlag"

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Nach der Entscheidung pro Lehmann gab es zahlreiche Vorwürfe und Verschörungstheorien gegen den DFB-Trainerstab. Der Nationalmannschafts-Manager äußert sich zu den Verdächtigungen.

Ludger Schulze und Philipp Selldorf

SZ: Herr Bierhoff, sind Sie erleichtert, dass die Anstrengungen des Torwartwettstreits überstanden sind, zumindest fürs Erste?

Wehrt sich: Oliver Bierhoff. (Foto: Foto:)

Oliver Bierhoff: Auf jeden Fall. Dieses Ergebnis haben wir uns erwünscht: Wir haben eine Nummer eins bestimmt, die Nummer zwei hat das akzeptiert und ist bereit, sich in den Dienst der Mannschaft zu stellen. Insofern sind wir überglücklich über die Lösung. Wir wussten natürlich, dass es von Oliver Kahn noch mehr Stärke fordert, zu sagen: Ich unterstütze als Nummer zwei Jens Lehmann. Umso mehr freut es uns, dass er sich dazu entschlossen hat und damit auch ein klares Zeichen nicht nur für die Mannschaft und die Trainer, sondern generell gegeben hat: dass die WM ein Riesenereignis ist, auf das wir uns alle freuen sollten.

SZ: Waren Sie überrascht, dass er sich so entschieden hat?

Bierhoff: Wir konnten das überhaupt nicht einschätzen. Aber es ist vielleicht der Vorteil, dass wir selber alle Profis waren - Jürgen Klinsmann, Andreas Köpke, Joachim Löw und ich - und wir uns daher ein wenig in seine Lage versetzen konnten; es war möglich, dass er im ersten emotionalen Moment sagen würde: 'Geht nicht. Das mache ich nicht mit' Aber wir haben gehofft, dass er sich bewusst wird, was so eine WM bedeutet, welche Chancen sich noch ergeben können und was er selbst dazu beitragen kann. Ich selbst habe das ja erlebt: Ich bin 2002 zur WM gefahren und wusste, dass Rudi Völler mich nicht als Stammspieler einplant. Da habe ich mich auch gefragt: Was machst du jetzt, in deinem Alter? Soll ich mich als ehemaliger Kapitän der Mannschaft, italienischer Meister und Torschützenkönig auf die Bank setzen? Hinter Carsten Jancker, der damals nicht die Weltklasseleistungen gebracht hat wie jetzt Jens Lehmann. Aber dann habe ich entschieden, dass ich das Turnier mitmachen werde und mir hinterher nicht vorwerfen möchte, dass ich eine Chance verpasst habe. Ich glaube auch, dass sich Oliver Kahn und Jens Lehmann deswegen so zusammengerissen haben, weil sie wissen: Es wird vielleicht das letzte Turnier der Karriere sein.

SZ: Der Trainerstab und auch Sie haben Kahn sehr gelobt für seine Entscheidung. Trotzdem wird weiterhin der Verdacht verbreitet, dass von vornherein die Absicht bestand, Kahn abzusägen.

Bierhoff: Das ist überhaupt nicht so. Jürgen Klinsmann hat doch bewiesen, dass er seine Überzeugungen schnell umsetzt. Er hat am Anfang zum Beispiel Bernd Pfaff (DFB-Direktor, die Red.) nicht mehr im Team haben wollen und mich dafür geholt. Oder er hat Sepp Maier als Torwarttrainer durch Andreas Köpke ablösen lassen - nicht aus Klüngelei, sondern weil es einfach nicht mehr ging. Bei Oliver Kahn war es ganz anders. Ich bin zwar bei der letzten Entscheidungsfindung nicht dabei gewesen, weil ich kein Trainer bin, aber ich habe gesehen, dass es über die mehr als anderthalb Jahre ein ständiges Hin und Her war. Sie haben nicht auf irgendeine Gelegenheit gewartet, um sich zu entscheiden.

SZ: Was war dann das Kriterium?

Bierhoff: Jürgen hat den Wettkampf eröffnet, um die beiden anzustacheln. Und wenn man sich die Leistungen der beiden Torhüter zwischen 2002 und 2004 und in der Zeit danach bis heute anschaut, dann sieht man bei beiden eine klare Leistungssteigerung. Also hat es etwas bewirkt. Beide wussten, dass es wieder notwendig ist, das Maximum aus ich herauszuholen. Und beide haben sich gut verhalten und sich nichts zuschulden kommen lassen. Es gab kein klares Zeichen, dass der eine die Nummer eins, der andere die Nummer zwei wäre.

SZ: Die Entscheidung fiel dann in ein Klima des Verdachts und der Mutmaßungen hinein. Zum Beispiel, dass man nur darauf gewartet habe, Kahn möge Fehler machen, wie es dann im Länderspiel gegen die USA oder im Bayern-Spiel gegen Köln geschehen ist.

Bierhoff: Das stört mich am meisten. Bei allen Entscheidungen wird Jürgen Boshaftigkeit unterstellt oder irgendeine Strategie. Mir wurde nachgesagt, ich sei Trauzeuge bei Lehmanns Hochzeit gewesen, dass unsere Frauen die besten Freundinnen seien. Es ist völlig abwegig, glauben, dass wir bei einer WM derartige persönlichen Dinge einbringen. Aber so ist diese negative Grundstimmung. Am Montag etwa habe ich hier nach der Erklärung von Oliver Kahn noch einen Pressetermin gemacht, da waren zehn Journalisten da vom Fernsehen. Und es kam keine einzige positive Frage. Nur: 'Wie soll das gehen? Was denken Sie, was Lehmann jetzt macht? War Klinsmann überhaupt glücklich darüber? ' Kein einziger hat einmal gefragt: 'Das waren doch großartige Aussagen von Oliver Kahn, freuen Sie sich darüber?'

SZ: Wie erklären Sie sich das? Ist das Ausdruck einer spezifischen Mentalität?

Bierhoff: Sicherlich ein bisschen. Aber ich mag es nicht, immer auf der deutschen Mentalität rumzuhacken. Und beim Publikum, den Fans stelle ich ja auch eher fest, dass sie Veränderungen wollen und der Tendenz unserer Arbeit zustimmen. Ich hoffe, dass sich jetzt ein wenig positives Denken durchsetzt. Für mich - und nicht nur für mich, auch für die Trainer, das WM-OK, den DFB oder auch Uli Hoeneß - war das, was Oliver Kahn gemacht hat, ein Befreiungsschlag. Aber selbst das wird kritisch beäugt.

SZ: Aber die Stimmung stammt nicht nur aus den Medien. Sie haben den Namen gerade genannt: Uli Hoeneß hat gesagt, Kahn habe nie "eine faire Chance gehabt" im Wettstreit mit Lehmann, er sei "ausgetrickst" worden. Wie konnte er zu dieser Meinung kommen?

Bierhoff: Was mich daran stört: Eigentlich ging es hier doch um einen sportlichen Zweikampf, wer ist der Bessere? Wir haben in Deutschland eine Tradition von guten Torhütern. Nicht nur im Fußball. Auch im Handball oder Eishockey. Und dann wird hier der sportliche Wettkampf zu "Psychoterror" erklärt. Wer macht den Psychoterror? Ein Trainer, der das Recht hat, etwas auszuprobieren?

SZ: Für Kahn war es offensichtlich eine schwierige Situation. Hoeneß konnte das in München im Alltag erleben.

Bierhoff: Sicherlich war die Situation für Oliver schwieriger als für Jens. Weil er als Nummer eins der Gejagte war. Aber deswegen kann man der Sache nicht aus dem Weg gehen. Den Begriff "Psychoterror" akzeptiere ich deswegen nicht. Den Stress machen nicht die Trainer, sondern Öffentlichkeit, Medien und Vereinsvertreter. Uli Hoeneß, den ich sehr schätze und mit dem ich gut zusammenarbeite, behauptet eben manchmal auch Dinge, um zu provozieren.

SZ: Die Formulierung, "Kahn ist Nummer eins, Lehmann der Herausforderer", kennzeichnete demnach nicht irgendwelche Privilegien des Amtsinhabers, sondern war die Sprachregelung für einen völlig offenen Wettkampf?

Bierhoff: Es ist wie früher bei Michael Schumacher in der Formel 1. Er war der Weltmeister, die anderen müssen ihn verdrängen.

SZ: In den Tagen nach der Torwartentscheidung hat Klinsmann gesagt, Kahn sei "vom Typ her keine Nummer zwei". Auch Köpke hat Zweideutiges geäußert. Das eröffnete Spekulationen, man habe Kahn nicht mehr dabei haben wollen.

Bierhoff: Spekulationen entstehen immer, da braucht man nicht mal was zu sagen. Die logischen Fragen nach der Torwartentscheidung waren doch: Nimmt Kahn die Nummer zwei an? Und wie verhält er sich dann? Was Jürgen und Andreas dann gesagt haben, ist vielleicht unglücklich rübergekommen. Uns geht es vor allem um das Verhalten der Nummer zwei im Mannschaftskreis.

SZ: Bei der Entscheidung für Lehmann sollen persönliche und geschäftliche Motive eine Rolle gespielt haben. Sie sind angeblich von Kindheit an mit ihm befreundet.

Bierhoff: Wir sind im gleichen Verein groß geworden, bei Schwarzweiß Essen. Aber wir haben aufgrund des Altersunterschieds nie zusammen gespielt. Es gab sicher mal ein flüchtiges Hallo, aber richtig kennen gelernt habe ich ihn erst bei der WM 1998. Wir können gut miteinander, so wie ich mit Marco Bode gut kann. Mit Jens habe ich auch ein halbes Jahr in Mailand zusammengespielt, aber es war nie so, dass wir uns ständig getroffen hätten. Wir haben noch keinen Urlaub zusammen verbracht, wir sind privat noch nie drei Tage hintereinander zusammen gewesen. Aber: Ich halte ihn für einen guten Typen, er schaut über den Tellerrand hinaus, mit ihm kann ich mich sehr gut unterhalten. Wenn ich in einer solch wesentlichen Angelegenheit wie der Torwartfrage mauscheln würde, würde ich das Vertrauen der Trainer total missbrauchen. In unserer internen Diskussion habe ich oft ein Wort für Oliver eingelegt. Es gab ja viele Aspekte, die für Kahn gesprochen haben. Ich habe meine Meinung geäußert, aber ich sage den Trainern in solchen Situationen immer: Das ist Eure Entscheidung.

SZ: Zu den Verschwörungstheorien gehört auch, dass es in Ihrem persönlichen Interesse gewesen sei, Lehmann auszuwählen, weil sie beide beim Sportartikelhersteller Nike unter Vertrag stehen.

Bierhoff: Davon habe ich noch nie gehört. Wer glaubt, dass solche Dinge eine Rolle spielen könnten, liegt total schief. Die Partnerschaft mit Nike besteht seit zehn Jahren und ich hänge persönlich an diesem Partner. Der Vertrag ist jedoch wirklich klein. Und ich kann zwischen dem DFB und der Person Oliver Bierhoff bestens unterscheiden. Es ärgert mich, wenn solche Dinge hervorgeholt werden. Im Nationalteam habe ich die Interessen von adidas immer optimal vertreten. Ich habe Christian Wörns verboten, in Nike-Schuhen zu trainieren, ich habe Jens Lehmann verboten, mit überklebten Nike-Handschuhen zu spielen. Und ich habe adidas (Sponsor des DFB, d. Red.) weit mehr Zeit für Werbeaktivitäten eingeräumt, als vertraglich vereinbart war. Als Manager der Nationalmannschaft ist es mein Job, die Interessen der DFB-Partner zu wahren.

SZ: In der Branche wird immer wieder der Name André Gross genannt. Der Schweizer Anwalt ist Berater von Jürgen Klinsmann und Jens Lehmann zugleich, er soll auch die Verhandlungen für Joachim Löw und Andreas Köpcke mit dem DFB geführt haben. In ihm wird ein Drahtzieher für Lehmann vermutet.

Bierhoff: Ob Lehmann noch mit Gross zusammenarbeitet, weiß ich nicht. In meiner Liste der Spielermanager ist sein Name jedenfalls nicht enthalten. Gross macht für Klinsmann die Verträge, Löw hat Christoph Schickhardt (Anwalt vieler Bundesligaklubs und -spieler). Köpkes Anwalt kenn ich nicht. Und meinen Vertrag hat auch Schickhardt gemacht. Ich frage mich, woher solche Dinge kommen. Diese Unterstellungen kann ich nur mit Nachdruck zurückweisen.

SZ: Klinsmann schare nur ihm genehme Menschen um sich, heißt es weiterhin, Konkurrenz dulde er nicht.

Bierhoff: Jürgen und ich waren in der Nationalmannschaft harte Konkurrenten. Er war die Nummer eins, ich saß ihm im Nacken. Aber wir haben heute das beste Verhältnis. Von solchen Dingen lässt er sich nicht beeinflussen. Für ihn ist diese WM zu wichtig, er legt sehr viel Leidenschaft und Herz in die Sache und ist keineswegs der kühle, berechnende Kopf, wie manchmal behauptet wird. Das sind absurde Vorwürfe.

SZ: Glauben Sie, dass nach der Entscheidung gegen Kahn die Luft gereinigt ist oder werden diese Verdächtigungen die WM-Vorbereitungen weiter stören?

Bierhoff: Das Problem der zwei Torhüter haben doch auch andere, die Holländer, die Franzosen oder die Polen. Hier wird ja so getan, als sei die bloße Entscheidung für den einen oder anderen Torwart schon ein Skandal. In der Bundesliga ist so etwas an der Tagesordnung, Ruhe wird es für uns wohl nicht geben. Auch während der WM wird irgendetwas kommen.

SZ: In wie weit kann Kahns idealistische Ansprache dabei helfen, das angespannte Klima zu verändern?

Bierhoff: Ich hoffe, dass sie eine Wirkung hat und sich alle darüber klar werde, dass es hier nicht um Eigeninteressen geht. Sondern darum, eine tolle WM zu haben. Und wenn das jemand wie Oliver Kahn macht, der ja einen ganz besonderen Druck hat, wenn sich also die ehemalige Nummer eins zurücknimmt, dann muss das für jeden ein Zeichen sein, sich dahinter einzureihen. Vor allem für junge Spieler sollte das heißen: 'Wenn sich Oliver schon unterordnet, dann kann ich nicht aus der Reihe tanzen.'

SZ: Ist der "Titan" denn als Nummer zwei überhaupt vorstellbar?

Bierhoff: Wenn er meint, was er gesagt hat - jederzeit. Durch seine Persönlichkeit und Ausstrahlung kann er der Mannschaft einen Antrieb geben. Wenn er hart arbeitet im Training, werden die Anderen mitziehen. Und außerdem: Man wird zwar nicht an der Rangfolge rütteln, aber man weiß im Fußball nie, was passieren kann. Als Trainer jedenfalls hat man eine Alternative von absoluter Weltklasse.

SZ: Was geschieht, wenn Oliver Kahn im Training den besseren Eindruck hinterlässt als Jens Lehmann?

Bierhoff: Ich bin nicht der Trainer und kann dies nicht entscheiden. Es ist aber wichtig, dass man nach dieser Entscheidung nicht ins Wanken kommt, wenn einer mal besser trainiert. Man kann doch nicht eine neue Debatte anzetteln, wenn Lehmann im letzten Spiel der englischen Liga eine Flanke unterläuft. Doch diese Diskussion wäre immer gekommen, egal, wer im Tor steht. Jetzt muss mal Ruhe sein, das hat ja auch Uli Hoeneß gesagt.

SZ: Dennoch wird Oliver Kahn während der WM im Mittelpunkt stehen - nun als der populärste Ersatzspieler der WM-Geschichte.

Bierhoff: Günter Netzer war 1974 ebenfalls äußerst beliebt, er war zwei Jahre vorher der geniale Spielmacher der Nationalelf und saß bei der WM im eigenen Land auf der Bank. Noch während des Turniers gab es den Zweikampf Overath-Netzer. Netzer hat dann seine Reservistenrolle ja hervorragend akzeptiert.

© SZ vom 13.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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