Nationalelf:Mini gegen Zwanzigtonner

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Die Rückkehr der Dingsda-Fußballer: Lahm und Marin zeigen beim 2:0 gegen Belgien, wie sehr der moderne Athletikfußball kleine Männer braucht.

Christof Kneer

Die sogenannten Einlaufkinder gehören inzwischen zu deutschen Länderspielen wie das Absingen der Nationalhymne. Bei den Einlaufkindern handelt es sich um kindliche Fußballspieler, die an der Hand von Schweinsteiger oder Podolski aufs Feld laufen. Bei der Hymne dürfen sie vor ihren Helden stehen, danach verliert sich ihre Spur. Wenn die Erwachsenen mit dem Sport beginnen, laufen die Kinder zurück in die Kabine, und am nächsten Tag erzählen sie stolz in der Schule, wie das so war an der Hand vom Schweini und vom Poldi.

Magic Moment: Marko Marin und Philipp Lahm. (Foto: Foto: dpa)

An diesem Abend waren die Einlaufkinder plötzlich wieder da. Es war schon 23 Uhr, als sie plötzlich vor den Werbetafeln der übertragenden Sender auftauchten und übertragende Reporter ihnen Mikrofone vor die Nase hielten. Waren denn die Eltern nicht im Stadion? Mussten die Kleinen nicht längst ins Bett?

Man hat dann schon etwas genauer hinsehen müssen, um zu begreifen, dass die vermeintlichen Einlaufkinder gerade das Länderspiel zwischen Deutschland und Belgien entschieden hatten. Als die Kameras heranzoomten, erkannte man freundliche Jungmännergesichter. Links neben einem ziemlich großen Reporter stand Marko Marin, knapp 1,70m groß, rechts daneben stand Piotr Trochowski, ebenfalls knapp 1,70m. Wieder ein paar Meter weiter stand Philipp Lahm, 1,70m.

Zwei dieser Männer hatten diesem Abend seinen einzigen magischen Moment geschenkt: Marin hatte mit ein paar Körpertäuschungen ein paar über 1,80m große Belgier in den Schwindel getrieben, dann war sein Pass hinüber zu Lahm gesaust, der den Ball direkt weiterflitzen ließ in eine Lücke, in die Marin im Gegensatz zu den über 1,80m großen Belgiern schon hineingewieselt war. Im Strafraum angekommen, änderte Marin blitzartig die Richtung, was zur Folge hatte, dass der 196 Zentimeter große van Buyten wirkte, als sei er auch 196 Kilo schwer. Als er noch mit dem Sortieren seiner Beine beschäftigt war, zischte Marins Schlenzer schon ins entfernte Toreck - unhaltbar für Torwart Stijnen, der mindestens drei Meter groß ist.

Der Fußball ist jetzt wieder da angekommen, wo er hergekommen ist: bei den kleinen Leuten. "Auf den Außenpositionen ist es sicherlich ein Vorteil, wenn man klein ist", sagte Marin später. Aber er war noch zu gefangen von diesem Spiel, um wirklich zu begreifen, welch programmatisches Tor ihm da gelungen war. Das 2:0 (77.) war ein Tor, das einen verstehen ließ, warum gerade der moderne Athletikfußball die kleinen Männer braucht. Weltweit herrscht ja inzwischen Einigkeit darüber, dass die prägenden Themen des aktuellen Fußballs Tempo und Handlungsschnelligkeit sind - wem das zu akademisch klingt, dem seien noch mal die bunten Bilder dieses Tores empfohlen. Marin vs. van Buyten, das war ein Duell wie Mini gegen Zwanzigtonner: Der Zwanzigtonner hat mehr PS und mehr Hubraum, aber zum Wenden braucht er den Stadionparkplatz. Dem Mini-Marin reicht zum Wenden eine Telefonzelle. Und viel größer ist der Raum meistens nicht, in dem sich heutzutage Fußballspiele entscheiden.

Den stilbildenden Fußball dieser Tage haben die Spanier bei der EM zur Aufführung gebracht, die kleinste Elf des Turniers hat die Gegner mit ausschweifenden Ballbesitzorgien kontrolliert und vorgeführt. Man hat ihnen für ihren ebenso irrwitzigen wie effektiven Kreiselfußball schon deshalb dankbar sein müssen, weil dieser Spielstil ein wunderbar stiller Protest war gegen die verherrlichte Lehrmeinung, wonach ausschließlich steiles Spiel zum Erfolg führt. Einen kleinen Moment lang haben die Deutschen an diesem Abend die Spanier nachgespielt: Lahm war Xavi. Marin war Iniesta.

Dieses Tor war der Beweis, dass der Spieler im Zweifel immer noch mehr wert ist als das System. Joachim Löw hat dieses Tor so nicht in Auftrag gegeben, er weiß ja, dass das in seiner Elf nicht viele können. Im Zusammenspiel können dieses Tor vielleicht nur Lahm und Marin, und zu hoffen steht, dass sich Löw nochmal kräftig geärgert hat, dass er den Mini aus Mönchengladbach nicht zur EM mitgenommen hat. Als im Finale gegen Spanien die kleine Lösung gefragt war, blieb Löw nichts übrig, als Kuranyi (1,90m) und Gomez (1,89m) einzuwechseln.

Für den Bundestrainer ist es eine gute Nachricht, dass er ab sofort einen Fußballer in seinen Reihen weiß, der sich auch im Gedrängel des modernen Kompaktfußballs austoben kann. Dieses kindlich verspielte Element hat deutschen Teams immer gut getan, erinnert sei an Litti & Icke, die stets allerlei Schabernack im Sinn hatten. Fürs Fernsehen haben Pierre Littbarski (1,68m) und Thomas Häßler (1,66m) mal die Kindersendung "Dingsda" nachgespielt, und auch auf dem Rasen haben die Dingsda-Kicker ihren Hang zur Kleinkunst zum Wohle des deutschen TV-Zuschauers ausgelebt.

Marko Marin hat sein zweites Länderspiel bestritten am Mittwoch, und es gab schon einige vor ihm, die nach Testspielen heilig gesprochen und bald wieder vergessen wurden. Bei Marko Marin sollte sich die Konkurrenz besser nicht darauf verlassen. Er kann so viel, dass es für eine große - pardon: kleine - Karriere reichen könnte.

© SZ vom 22.08.2008/jüsc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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