Nada-Chefin:"Wir wollen, dass nichts mehr unter den Teppich gekehrt wird"

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"Zynisch", "Katastrophe": Andrea Gotzmann kritisiert die Haltung des IOC-Chefs in der Dopingfrage.

Interview von Thomas Kistner

Im Österreich-Haus auf der Sportanlage des Traditionsklubs CF Botafogo in Rio de Janeiro: Im Vorhof spielt die Blasmusik, zwischen den Trainingsfeldern hinter dem Stadtpalais wird Tacheles geredet. Andrea Gotzmann und Michael Cepic, die Chefs der Anti-Doping-Agenturen von Deutschland und Österreich, attackieren auf einer Pressekonferenz die Rochaden des Internationalen Olympischen Komitees in der Russland-Frage - und fordern das IOC auf, die Russen von den Winterspielen 2018 in Pyeongchang auszuschließen. Die Chefin der deutschen Nada erläutert ihre Kritik im SZ-Gespräch.

SZ: Frau Gotzmann, Sie sagen, Sie könnten die Öffnung der Spiele für Russland fachlich nicht nachvollziehen - hat das IOC also eine politische Entscheidung getroffen?

Gotzmann: Davon muss man ausgehen.

Stehen Sie da als Vertreterin einer Anti-Doping-Agentur nicht auf verlorenem Posten? Das IOC macht Hinterzimmer- Politik, naive Anti-Doping-Experten grübeln derweil über Verbesserungen.

Wir haben zu Russland drei Beschlüsse. Der Leichtathletik-Weltverband hat alle Sportler gesperrt und klare, harte Kriterien für eine Rio-Qualifikation festgelegt. Die hat nur eine Athletin geschafft. Dazu kommt der Beschluss des Behinderten-Weltverbands IPC, alle Russen von den Paralympics auszusperren. Wir haben also eine 2:1-Entscheidung, das gibt mir Hoffnung. Wir müssen jetzt nur weiter laut und entschlossen unsere Forderungen stellen, für die Unabhängigkeit unserer Arbeit und für die sauberen Athleten, die wir schützen müssen.

Das IOC hat die Olympia-Auslese einfach auf die Fachverbände abgewälzt. Haben diese die Kompetenz, kurzfristig über so massive Dopingfragen zu entscheiden?

Ich wüsste nicht, wo sie die her haben sollten. Man sieht ja auch, oft wurden Sportler einfach durchgewunken. Der Boxverband ist für mich das Beispiel schlechthin: Da wurden gar keine Trainingstests gemacht. Es ist nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien da verfahren wird. Das Ganze ist völlig intransparent, jeder hat sein eigenes Ding gemacht.

Boxen ist ein gutes Beispiel für politische Abhängigkeiten: Über den Weltverband Aiba heißt es, er hänge am Tropf mysteriöser Gönner in Aserbaidschan - deren größte Medaillenhoffnung ist die Boxstaffel des Landes. Da stören Tests nur.

Ich kenne die Verbindung nicht, aber wir brauchen ja auch nur Judo anzuschauen . . .

. . . wo auch alle Sportler durchgewunken wurden und der Ehrenpräsident des Weltverbands Wladimir Putin heißt.

Die Sportler und Betreuer sehen doch genau, wenn sich der Körper eines anderen Athleten plötzlich stark verändert - wie können sich die Fachleute darüber hinwegsetzen? Das sind traurige Erkenntnisse, und daraus entstehen unter Sportlern ganz gefährliche Debatten.

Hat der IOC-Beschluss pro Russland, also gegen das Votum der Anti-Doping-Bewegung, gezeigt, dass das IOC die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada nur als Fassade benutzt? Als Sichtblende fürs Publikum, das ja auf keinen Fall bemerken darf, dass Doping im Spitzensport längst aus dem Ruder gelaufen ist?

Es erweckt zumindest den Eindruck. Auf der anderen Seite gibt uns jetzt die große Empörung, die sich überall regt und die nicht nachlässt, viel Hoffnung. Wir werden gemeinsam mit unseren Partnern weiter für die sauberen Athleten arbeiten, und ich denke auch, wir stehen mit beiden Beinen in der Realität - sonst hätten wir nicht Leute wie Travis Tygart ( b rachte US-Radsport-Legende Lance Armstrong zu Fal l; d. Red.) von der amerikanischen Usada dabei. Wir haben in Deutschland, gegen den Widerstand des Sports, ein Anti-Doping-Gesetz gemacht; wir haben jetzt die Staatsanwaltschaft an der Seite. Nadas aus anderen Ländern fragen unseren Gesetzestext an.

Das Kernelement einer effektiven Dopingfahndung ist aber nicht die Laborarbeit, sondern die Mithilfe der Wissenden, die nur von innen kommen kann, aus Athleten- und Betreuerkreisen. Die kennen Netzwerke, Mittel und Methoden. Welches Zeichen setzt da der Olympia-Ausschluss der russischen Whistleblowerin Julia Stepanowa durch das IOC?

Katastrophe. Katastrophe! Stepanowa hat entscheidend zur Aufklärung in Russland beigetragen, und dann wird sie so behandelt. Ich finde es auch zynisch zu sagen: "Komm, wir laden die Stepanowa jetzt hierher nach Rio ein." Auf die Ehrentribüne. Wie weit ist das weg von den Athleten? Ich fürchte, das könnte auch Leute abschrecken, sich über unser "Sprich's an"-Meldesystem für Whistleblower zu melden.

Müssen die echten Anti-Doping-Kräfte im Sport nicht künftig klar die politischen Linie benennen, die das IOC verfolgt?

Im Wada-Stiftungsvorstand sitzen zu 50 Prozent Politiker, 50 Prozent aus dem Sport. Da müssen die Nadas reinkommen, die ja die Arbeit machen und sich wirklich auskennen.

Regierungsvertreter sind oft gern nahe an den Patronen des Sports. Ist das eine Hilfe?

Die Regierungsvertreter sind, schon aufgrund der regelmäßigen demokratischen Wechsel in der Politik, bei Weitem nicht so gut organisiert wie die Sportfunktionäre. Letztere kriegen ja auch Entscheidungen mit Mehrheiten von 99,9 Prozent hin.

"Die große Empörung, die sich jetzt überall regt, gibt uns Hoffnung": Die frühere Basketball-Nationalspielerin und promovierte Biochemikerin Andrea Gotzmann, 59, ist seit 2011 Vorstandsvorsitzende der Nada. (Foto: Heinl/dpa)

Gerade deutsche Sportfunktionäre stellen sich kompromisslos hinter IOC-Chef Thomas Bach, der sie berufen und den deutschen Sport über Jahre beherrscht hat . Wie sehen Sie den Widerspruch in Deutschland zu Ihrer Position?

Es ist natürlich, dass man unterschiedlicher Meinungen ist . . .

Haben Sie eigene Meinungsäußerungen der Spitzenleute im Deutschen Olympischen Sportbund gehört - oder blinde Unterstützung für Bach?

Ich glaube, keiner hat das Recht für sich gepachtet. Michael Vesper und Alfons Hörmann haben Statements dazu abgegeben.

Sollte das IOC das russische Team komplett für die Winterspiele 2018 in Pyeongchang sperren?

Ja. Das IOC hat ja nur eine Entscheidung für Rio getroffen. Und im McLaren-Report ( der unabhängige Wada-Ermittler Richard McLaren enthüllte staatlich gelenktes Systemdoping und dessen Vertuschung bei den Winterspielen 2014 in Sotsch i; d. Red.) wird klar dargelegt, was die Russen speziell im Wintersport getrieben haben. Unsere Meinung dazu hat sich nicht geändert, wir haben sie gemeinsam mit der Wada und 14 Nadas inklusive Skandinavien, den USA und Kanada vorgetragen. England und Australien werden bald dazustoßen.

In Rio steht WM-Gastgeber Brasilien im Verdacht, mit staatlicher Hilfe Dopingtests verhindert zu haben. Die Athleten des zweitgrößten Olympiateams wurden vor der Eröffnungsfeier fast vier Wochen lang nicht getestet, dem Labor in Rio war Anfang Juli die Wada-Zulassung entzogen worden. Ist staatlich organisierter oder geschützter Dopingbetrug nicht längst im olympischen Sport angekommen?

Ich kenne die konkreten Vorwürfe nicht, aber die Veranstalter scheinen ja stets einen besonderen Druck zu verspüren, Erfolge ihrer Athleten abliefern zu müssen. Und wir können auch nicht sagen, dass bei den Brasilianern bisher eine Nonplusultra- Dopingbekämpfung geleistet wurde.

Portugals Ex-Anti-Doping-Chef Luis Horta, der während der heiklen Phase in Rio die Aufsicht hatte, sagt, er und Mitarbeiter seien vor den Spielen gebremst worden: Sie würden mit Kontrollen nur die Athleten beim Training stören.

Das stört doch nicht, das gehört einfach dazu in einem Athletenleben. Ich werde mit Luis Horta darüber sprechen.

Setzt Olympia in Rio das Thema Staatsdoping endgültig auf die Agenda?

Ja. Aber es ist auch die Empörung da. Und Widerstand. Wir wollen dafür sorgen, dass nichts mehr unter den Teppich gekehrt wird. Das war vielleicht vor einigen Jahren möglich, heute ist es nicht mehr so.

© SZ vom 10.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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