1860 München:Gegenpressing als Gegenentwurf

Lesezeit: 3 min

"Ich leg mir den Ball vorbei aus vollem Lauf, dann werde ich am Fuß berührt, von alleine fliege ich bestimmt nicht um." - Okotie gegen Unions Torwart Haas. (Foto: imago/Philippe Ruiz)

Stürmer Rubin Okotie ist wieder gesund, und die Systemumstellung kommt ihm zugute. Mit Nebenmann und guter Laufarbeit fällt er wieder mehr auf.

Von Philipp Schneider

Rubin Okotie hat sich am Abend noch einmal die Szenen im Fernsehen angeschaut, in denen er als Darsteller in Erscheinung trat. Zweimal fiel er hin. Mindestens einmal wurde er gefoult. Einmal gab es Elfmeter. Und alles trug sich zu innerhalb von nur zwei Minuten einer Sonntagsbegegnung zwischen dem TSV 1860 München und Union Berlin. Das Spiel endete 0:0, daran hatte sich auch nichts geändert, als Okotie die Zusammenfassung im Fernsehen sah. Allerdings war eine Frage noch offen: Hatte ihn Berlins Daniel Haas nicht vielleicht doch von den Füßen gewischt mit einer seiner behandschuhten Torwarthände in Minute 61?

Stephan Hain fällt wegen einer Knochenstauchung im Kniegelenk etwa vier Wochen aus

"Ich leg mir den Ball vorbei aus vollem Lauf, dann werde ich am Fuß berührt, von alleine fliege ich bestimmt nicht um", sagt Okotie am Tag darauf. Dass er zumindest ein bisschen nachgeholfen haben könnte beim Umfliegen, weil der Ball schon weit weg war und das Umfliegen in diesem Moment sozusagen die torgefährlichste verbliebene Option gewesen sein könnte, das war ja mancherorts spekuliert worden. "Ich bin schon vorbei, dann trifft er mich noch am hinteren Fuß, deshalb fliege ich so spät und deshalb schaut es auch so komisch aus." In der Tat. Andererseits: auch egal. Weil Okotie kurz darauf gefoult wurde, diesmal unstrittig. Und diese Szene, die in einem von Daniel Adlung verschossen Elfmeter mündete, wäre gar nicht erst entstanden, hätte Sechzig zuvor schon einen Elfmeter zugesprochen bekommen.

Aber all diese Elfmeter-oder-doch-nicht-Debatten führen am Kern der Löwenkrise vorbei. Die Frage muss sein: Warum wurden dem Stürmer nur zwei Pässe vor die Füße gespielt in 90 Minuten? "Eigentlich gab es nur die zwei Szenen vor den Elfmetern", hat auch Okotie bemerkt.

Sechzigs Trainer Torsten Fröhling hat in der Sommerpause erstmals Zeit gehabt, einer Mannschaft, die zuvor mit dem Überlebenskampf in der zweiten Liga ausgelastet war, seine Vorstellung vom schönen Fußball beizubringen. Und schön findet Fröhling: ein System mit zwei Stürmern. Seither ist Okotie im Sturm nicht mehr alleine, getroffen hat er trotzdem nicht; sein letztes Tor datiert noch immer vom 9. Februar im Spiel gegen Heidenheim. Da Sturmkollege Stephan Hain nun wegen einer Knochenstauchung im Kniegelenk etwa vier Wochen ausfällt, wird sich Okotie mit Stefan Mugosa arrangieren, der gegen Berlin erstmals spielte. Allmählich kommt Okotie auch wieder besser in Schwung, zuletzt beim 2:2 gegen Nürnberg "habe ich schon zweimal Aluminium getroffen", sagt er selbst. Die Mannschaft habe in der Vorbereitung Zeit gehabt, "um gewisse Sachen auszuprobieren, und die versuchen wir jetzt umzusetzen: Wir spielen inzwischen mehr Gegenpressing."

Als Gegenpressing wird das Pressing direkt nach einem Ballverlust bezeichnet. Gegenpressing ist also der Gegenentwurf zur lange Zeit beliebten Löwentaktik, die beispielsweise Friedhelm Funkel praktizieren ließ: nach Ballverlust alle Mann zurück in die eigene Hälfte und Beton anrühren. Gegenpressing verlangt vor allem: Laufeinsatz von den Stürmern. "Rubin ist jetzt sehr in die Defensive eingebunden, er arbeitet viel für die Mannschaft", lobte entsprechend Kapitän Christopher Schindler. Fröhling dagegen war nach dem aus seiner Sicht zweiten unnötigen Unentschieden nacheinander verärgert über die miserable Chancenauswertung, die sich ja nicht auf Adlungs verschossenen Elfmeter reduzieren ließ: "Wir müssen uns einfach nur an die Nase fassen, dass wir zu doof sind, Tore zu machen."

Etwas klüger wollen die Löwen werden, sobald ein auch in der zweiten Liga so genannter Kreativspieler verpflichtet ist, ein Zehner, der die Stürmer mit gescheiten Zuspielen versorgt. Die Frage ist offenbar nur noch, ob es Kevin Stöger vom VfB Stuttgart werden wird, oder aber - weitaus wahrscheinlicher - Michael Liendl von Fortuna Düsseldorf. "Es steht außer Frage, dass Liendl ein sehr guter Spieler ist, das zeigt auch seine Statistik", sagt Okotie.

In der vergangenen Saison hatte Okotie zum gleichen Zeitpunkt nach dem vierten Spieltag sechs Pflichtspieltore erzielt. Danach startete er seinen bemerkenswerten Lauf, der bis zum Winter andauerte und der ihn auch zurückführte in die Nationalmannschaft Österreichs. Im November verletzte er sich am Innenband im Knie, doch obwohl es angerissen war, spielte er weiter bis Ende Dezember. "Das war natürlich für den Heilungsverlauf gar nicht gut." Die Entscheidung, sagt er, habe er gemeinsam mit den Ärzten getroffen, die ihn darauf hinwiesen, dass sich im schlimmsten Fall der Heilungsprozess verzögern könnte. Der schlimmste Fall trat ein. Und als sich nach einem Zweikampf im März die Symptome wieder verschlechterten, ging Okotie für acht Wochen in Reha, denn eigentlich sei es doch "das Normalste der Welt, das ein verletzter Spieler Zeit braucht. Um zu funktionieren". Er musste sofort funktionieren. Im Abstiegskampf wurden alle verbliebenen Spieler gebraucht, erst Recht Okotie, zu dem es im Sturm keine Alternative gab. "War 'ne heiße Phase. Ich habe natürlich gespielt. Aber das war nicht optimal."

Nach nur zwei Punkten aus vier Spielen ist Sechzig längst in die nächste heiße Phase eingetreten. Okotie ist gesund, er profitiert vom neuen System. Es sei "besser, wenn du Unterstützung hast, weil du nicht immer alleine drei Gegenspieler hast", sagt er. Vielleicht fehlt ihm wirklich nur ein Tor.

© SZ vom 25.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: