Momente der Sportgeschichte:Der Ritter von der Traummeile

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Der Heilige Gral der Leichtathletik: Vor 50 Jahren lief Roger Bannister als erster Mensch die Meile schneller als vier Minuten.

Von Michael Gernandt

Das Zielband. Der Läufer nähert sich ihm jetzt. Nur noch fünf Yards sind zurückzulegen, als ihn das Gefühl beschleicht, das Band fliehe vor ihm. Endlos dehnen sich die letzten Momente. Das Band. Er empfindet es als einen Hafen des Friedens nach dem Kampf. Wo bleibt es?

Drei Minuten, 59 Sekunden und vier Hunderstel: Bannisters Rekordlauf 1954 ging in die Geschichtsbücher ein. (Foto: Foto: AP)

Gedanken schießen ihm durch den Kopf: Wenn ich mein Tempo halte bis ins Ziel, werden mich die Arme der Welt empfangen - lasse ich nach, wird diese Welt kalt sein. Endlich, er ist angekommen: Er springt in das Band wie einer, der den letzten Sprung wagen muss, um sich vor dem Abgrund zu retten. Es schwinden ihm die Sinne. Sein Blick, getrübt.

In seinem Inneren, das registriert er gerade noch, scheint sich ein Blitz zu entladen und ihm den Lebenswillen zu nehmen. Doch schnell geht die Schwäche vorüber. Sein Körper meldet sich zurück. Er spürt seine Gliedmaßen: als seien sie in einen Schraubstock gepresst. Eine Gewissheit indes fegt den Schmerz beiseite: "Noch bevor ich die Zeit erfuhr", sagt der 25-jährige Medizinstudent Roger Bannister, "wusste ich, dass ich es geschafft habe."

Ein Hauch von Unsterblichkeit

Geschafft? Die Traummeile, Auflösung der scheinbar unveränderlichen Symmetrie von viermal einer Minute, Herausforderung für jeden dem Pionier- und Sportgeist und Amateurismus verpflichteten Briten. Der Mythos, die Sehnsucht des Läufers nach einem Hauch Unsterblichkeit. Darum ist es gegangen, vor fünfzig Jahren, am 6. Mai 1954 auf dem Sportplatz der Universität Oxford an der Iffley Road.

Kurios nur, dass die ganze Wahrheit der gefeierten Heldentat vom athletischen Ausmaß der Everest-Besteigung durch den Neuseeländer Edmund Hillary im Jahr zuvor, ihre exakten Zahlen, 3:59,4 Minuten, zunächst kaum jemand wissen wollte, wissen konnte.

Weil der Platzsprecher (und spätere Gründer des Guinness-Buchs der Rekorde) Norris McWhirter meinte, erst mal andere Fakten verkünden zu müssen: "Das Ergebnis von Rennen Nummer neun, der einen Meile. Gewinner ist R.G. Bannister, Amateur Athletic Association und früher vom Exeter und Merton College, mit einer Zeit, welche, die Anerkennung vorausgesetzt, ein Bahnrekord ist, ein Rekord für Engländer, ein Rekord für das United Kingdom, ein Europarekord, ein Weltrekord, die Zeit ist drei Minuten..."

Der Rekord, den niemand mitbekam.

Der Rest ging unter im Ohren betäubenden Lärm von gut 1000 Zuschauern beim Vergleichskampf der Uni Oxford gegen die Auswahl des englischen Leichtathletik-Verbands, der Amateur Athletic Association (AAA).

Dass die Bahn brechende Leistung ein halbes Jahrhundert später nicht bloß als Randnotiz wahr genommen wird, als ein Rekordjubiläum unter vielen, hat zum einen mit ihrer nicht zu erschütternden Aura zu tun und andererseits mit der faszinierenden Persönlichkeit Roger Bannisters.

Trotz monströs ausgefallener Veränderungen in den Rekordlisten, der Zertrümmerung von Bollwerken leichtathletischer Schaffenskraft und anderer von schrillem Getöse begleiteten Großtaten poliert die internationale Leichtathletik den Glanz eigentlich nur zweier Ereignisse immer wieder auf: Jesse Owens' vier Weltrekorde im Mai 1935 innerhalb von knapp einer Stunde und eben das Traummeilenrennen von anno '54.

Der heilige Gral

Wenn der Leichtathletik-Weltverband Bannisters Rekord selbst heute noch als den "Heiligen Gral der Leichtathletik" bezeichnet, als eine "der größten sportlichen Leistungen aller Zeiten", "die Überwindung der symbolischsten Markierung des 20. Jahrhunderts", dann hat das nur auf den ersten Blick mit nostalgischer Verklärung zu tun, viel jedoch mit der Notwendigkeit gelegentlicher Rückbesinnung auf den naturbelassenen Ursprung.

"Heute ist es undenkbar", sagt der nun 75-jährige Mediziner Bannister, "dass ein Amateurathlet einen Meilenweltrekord unter den Bedingungen von damals bricht. Deshalb hoffe ich, dass das Ereignis von damals Athleten inspiriert, nach dem Besten zu streben und zwar durch persönliche Anstrengung allein."

Roger Bannister hatte 1946 ein Stipendium zum Medizinstudium in Oxford erhalten, begann dort mit dem Training der Mittelstrecke und entdeckte dabei, "dass Laufen die größte Freiheit verschafft, die einem Menschen widerfahren kann, das Resultat ist der Befreiung des Körpers und des Geistes".

Viermal die Woche eine Dreiviertelstunde - das reichte

Obwohl er seinem Studium stets die höchste Priorität einräumte, allenfalls viermal in der Woche eine Dreiviertelstunde trainierte, erreichte der junge Akademiker bei der Europameisterschaft 1950 über 800 Meter Platz drei und bei den Olympischen Spielen 1952 Platz vier über 1500 Meter. Darüber war er enttäuscht, er scheiterte an einer kurzfristigen Änderung des Zeitplans, die zum Ausfall eines Ruhetags führte. Darauf war sein Körper nicht vorbereitet.

Englands Presse mokierte sich über den unkonventionell und ohne Anleitung eines Coaches trainierenden Läufer. "Ich traute meinen Instinkten mehr als den Anordnungen eines Trainers", begründete Bannister seine Alleingänge. Und beschloss, nur noch zwei Jahre Sport zu treiben und sich vom Sieg- zum Rekordläufer zu wandeln.

Das Ziel hieß: Meilenweltrekord. Ihn hatte der Schwede Gunder Hägg 1945 bis auf 1,4 Sekunden an die Vierminuten-Marke heran gebracht, und zu Beginn des Jahres 1954 rannte der Australier John Landy dreimal im Bereich von 4:02 Minuten. Die vier Minuten-Barriere, war sie nicht zu überwinden? Bannister gehörte nicht zu denen, die sich auf die Seite jener Skeptiker schlugen, die es Menschen nicht zutrauten, schneller als vier Minuten zu rennen. Seine Überlegung: Wer eine Sekunde drüber bleiben kann, kann bei entsprechender Vorbereitung auch eine Sekunde drunter bleiben (er selbst war 1953 bei 4:02 angekommen).

Regen, Wind und Sturmböen - er lief trotzdem

Nach mehreren vergeblichen Anläufen der Konkurrenz war dem Intellektuellen von der Elite-Uni Oxford klar, dass in der Angelegenheit weniger ein physisches denn ein psychisches Hindernis zu überwinden wäre. Er steigerte die Qualität seines Trainings, indem er sein medizinisches Wissen von seinem Körper mit Trainingserkenntnissen kombinierte. Zudem suchte er die Zusammenarbeit mit den Läufern Chris Chataway, der ebenfalls in Oxford studierte, und dem Cambridge-Mann Chris Brasher.

Die organisatorische Planung für den Rekordlauf übernahm Oxford-Coach Franz Stampfl, ein Österreicher, der 1938 seine Heimat verlassen hatte, als Hitler in Wien einmarschierte. Dessen Masterplan: Brasher sollte die ersten zwei Runden in 1:58 Minuten führen, Chataway dann Runde drei (3:00) und ein paar Yards (ein Yard = ca. 0,9 m) mehr übernehmen, der Rest für Bannister bleiben.

Das Problem der vier Läufer war das (damals noch existierende) Verbot, Rekordversuche öffentlich zu machen und (heute als "Hasen" bezeichnete) Tempomacher einzusetzen. Man entschied sich deshalb für das wenig beachtete Meeting zwischen der Universitäts-Mannschaft Oxford und einer AAA-Auswahl am 6. Mai. Just an diesem Tag aber regnete es, heftiger Wind fegte mit Sturmböen über den Platz.

Bannister wollte deshalb nicht antreten und musste von Stampfl auch mit dem Hinweis, die Konkurrenz könnte ihm zuvorkommen, überredet werden: "Lauf! Jetzt oder nie." Punktgenau trafen Chris Brasher und Chris Chataway die vereinbarten Zwischenmarken, Bannister war nur die letzten 230 Yards sich selbst überlassen.

Wieder bei Kräften dividierte er, Sportsmann der er war, den frischen Ruhm durch drei: "Wir haben es geschafft, wir teilen uns einen Platz, den Menschen bisher nicht wagten einzunehmen." Dass Bannister bereits 46 Tage später von John Landy (3:58,0) übertroffen wurde und bis heute fast tausend Athleten dem Traummeilen-Klub angehören (aktueller Weltrekord: 3:43,13 Minuten vom Marokkaner Hicham El Guerrouj), nimmt dem Meisterstück von Oxford nichts von seiner überragenden Exklusivität.

Dafür und für seine Forschungsleistungen als Neurologe am Pembroke College der Uni Oxford schlug die Queen Bannister 1975 zum Ritter. Aus Chataway, dem späteren 5000-Meter-Weltrekordler und Minister der Heath-Regierung, wurde Sir Christopher.

Nur der dritte Mann von der Iffley-Road, Chris Brasher, Olympiasieger von 1956 über 3000 Meter Hindernis und später Sportchef des Observer, verweigerte sich der Krone. Aus Protest gegen den Olympiaboykott des Thatcher-Kabinetts lehnte er 1980 das Adelsprädikat forsch ab; so forsch wie er am 6. Mai 1954 den Weg geebnet hatte, Roger Bannister einen Traum zu erfüllen. "Früher", sagt Roger Bannister heute, "war der Rekord wichtig für mich, nun ist er in den Hintergrund gerückt, und ich sehe das eigentliche Ergebnis des Rennens: die wundervolle, lebenslange Freundschaft mit Chataway und Brasher. Sie waren geformt im Feuer der Leidenschaft und der Mühen."

© SZ vom 5.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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