Michael Ballack:Rasen betreten verboten

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Michael Ballack, Schütze gegen Korea und im Endspiel gesperrt: ein Selbstopfer aus Staatsraison.

Ludger Schulze

(SZ vom 27.6.02) - Wenn kleine Jungs träumen, mal ein großer Fußballer zu sein, dann haben sie dieses Bild vor Augen: sich selbst neben zehn anderen Nationalspielern, wie sie zu den Klängen der Hymne stramm stehen, ehe das Weltmeisterschafts-Endspiel beginnt, bei dem zwei Milliarden Menschen vor den Fernsehapparaten mitfiebern. Ein herrlicher Traum, mit dem kleinen Haken einer widerspenstigen Realität. Von den vielen Millionen Balltretern auf dem Erdball schaffen es in jedem vierten Jahr höchstens 28 Spieler. Ein verschwindend kleiner Promillesatz.

Michael Ballack schießt Deutschland ins Finale und zieht die Pechzahl 13 über sein Gesicht. (Foto: N/A)

Gesetz ist Gesetz

Michael Ballack hat davon geträumt, als er mit sieben beim BSG Motor Karl-Marx-Stadt seine Karriere begann. Und er hat es tatsächlich bis vor das wichtigste aller Fußballspiele geschafft. Hat sogar selbst das Tor geschossen, das den Deutschen die Pforte zum Finale aufstieß. Und doch hat er nun nicht mehr in Händen als dieses riesige Meer kleiner Freizeitkicker, für die der Traum vom WM-Finale so unerreichbar bleibt wie der Wunsch nach Unsterblichkeit. Die zweite Gelbe Karte innerhalb der K.o.-Runde ist für Ballack wie ein Verbotsschild im Stadion von Yokohama: Betreten des Rasens strengstens verboten.

Darf das Leben so hinterhältige, so abgrundtief gemeine Streiche spielen? Niemals. Alfred Hitchcock wäre vor einer solch perfiden Pointe aus Gründen der Glaubwürdigkeit und Menschlichkeit zurückgeschreckt. Nicht aber die Fifa, der Weltverband aller Fußballer: Gesetz ist Gesetz, ohne Ansehen von Person und Umständen, aus und fertig, abtreten.

Herz-Muskelkater in der Kabine

Als Michael Ballack, 25, nach dem Spiel gegen Korea in die Kabine kam, hat er ein paar Tränen geweint. Die meisten Kollegen, erzählte er, "nun ja - haben mich kurz getröstet". Dann hat sich jeder mit sich selbst beschäftigt, seine Freude herausgebrüllt, im Endspiel zu sein - und Ballack saß auf seinem Platz und starrte vor sich hin, und vermutlich hat sich sein Herz zusammengekrampft wie bei einem Muskelkater. "Wenig bis gar nicht" habe er geschlafen, sagte Ballack am Tag danach - "aber ich hab' ja jetzt Zeit, mich auszuruhen."

Michael Ballack ist nicht der Erste, den der Bannstrahl einer Suspendierung getroffen hat. Es sind große Namen, die seine Vorgänger tragen. Frankreichs Kapitän Laurent Blanc, der 1998 den Triumph seiner Blauen von draußen miterlebte; Italiens stolzer Abwehrrecke Alessandro Costacurta, der seinen Freunden nicht helfen konnte, die Niederlage im Elfmeterschießen gegen Brasilien 1994 zu verhindern; oder Claudio Caniggia, ohne den Argentinien 1990 gegen Deutschland unterlag.

Lebenstraum geplatzt

Doch Ballacks Fall wiegt schwerer. Ohne seine sieben Tore in der WM-Qualifikation wären die Deutschen gar nicht mit zur WM gefahren; ohne seine beiden Treffer gegen die USA und Südkorea wäre das Aus viel eher gekommen. Ohne ihn, der "sowohl Tore schießen und auch vorbereiten kann, das fehlt uns im Finale ganz brutal - er ist nicht zu ersetzen" (Teamchef Rudi Völler).

Ballacks durchaus verwarnungswürdiges Foul war ein Selbstopfer aus Staatsraison. Damit hat er ein mögliches Gegentor verhindert, aber gleichzeitig seinem Lebenstraum die Rote Karte gezeigt. "Ich musste es tun, sonst wär's verdammt gefährlich geworden", sagte er gestern, "jetzt spielt halt ein anderer." Welch ein tragisches Dilemma zwischen Pflichtgefühl und Selbstverpflichtung!

Keine Vorwürfe

"Das hätte", sagte er in falscher Bescheidenheit, "jeder andere auch getan." Hat aber nicht: Carsten Ramelow, noch näher bei Chun Soo Lee stehend, zog den Fuß - vermutlich eingedenk seiner Gelb-Roten Karte im Spiel gegen Kamerun und der folgenden Sperre im Achtelfinale - kurz zurück und ließ den Koreaner Gefahr bringend Richtung Strafraum passieren. Bis Ballack kam.

Doch der ist weit entfernt, jemandem einen Vorwurf zu machen, auch Torsten Frings nicht, der die Situation durch einen Ballverlust erst heraufbeschwor. "Ich muss mich damit abfinden", sagte Michael Ballack.

Tragische Helden

Vielleicht wird er nun ein großer Held des deutschen Fußballs, einer wie Franz Beckenbauer 1970, der nach dem himmelschreienden 3:4 gegen Italien mit verbundener Schulter vom Platz schlich wie der verwundete General einer geschlagenen Armee. Oder wie Fritz Walter oder Uwe Seeler. "Um ehrlich zu sein: Diese Frage kann man nicht beantworten. Man ist so leer im Kopf", sagte er, und man konnte den Schmerz fühlen, der in ihm wütet. Dann sagte er: "Natürlich werde ich beim Finale mit ganzem Herzen bei der Mannschaft sein."

Und jeder im Saal des Sheraton Walker Hill in Seoul, wo der DFB seine Pressesitzung abhielt, konnte spüren, dass der größte Fan der deutschen Mannschaft am Sonntag in Yokohama einer sein wird, der für sein Leben gerne selbst mitgespielt hätte: Michael Ballack - 25, 27 Länderspiele, neun Tore - ist ein großer Sportsmann geworden. Schön, dass man ihn bald wieder in der Bundesliga sehen kann.

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