Mexiko:Der die Sterne stiehlt

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In Mexiko bekommt man für wenig Stress viel Geld - deshalb bleiben die meisten Profis im Land. Kapitän Marquez ist das Vorbild im mexikanischen Team und färbt ab.

Jörg Marwedel

In einer Ecke des Göttinger Jahnstadions drängeln sich die Reporter. Sie wollen so genannte O-Töne von den mexikanischen Nationalspielern, wenigstens ein paar Sätze zum zweiten Gruppenspiel gegen Angola an diesem Freitag in Hannover (21 Uhr).

(Foto: Foto: dpa)

Die Reporter erfahren fast immer dasselbe: wie stark die Angolaner seien, wie sehr man aufpassen müsse, um keine böse Überraschung zu erleben. Unverfängliche Sätze, die ein Profi von sich gibt, wenn er nichts Falsches sagen will.

Nur einer spricht anders. Er hat einen Dreitagebart, das glänzende Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Auch dieser Mann redet davon, dass Angola gefährlich sei. Aber er sagt noch etwas: "Wir fühlen uns sehr sicher. Normalerweise wird nichts passieren."

Nicht schön, sondern nüchtern

Der Mann heißt Rafael Marquez, er ist der Kapitän des Teams, und als er diese selbstbewussten Worte diktiert, schaut er nicht aus wie ein leichtfertiger Luftikus. Marquez blickt ernst und entschlossen.

Er spielt beim FC Barcelona, der besten Klubmannschaft Europas, vielleicht der Welt. Er hat Barcelonas einst löchrige Abwehr zu einer Festung gemacht mit seinem überragenden Stellungsspiel, seiner Kopfballstärke und einer Fehlpassquote, die gegen Null tendiert.

Er hat ein Team verspielter Künstler um eine entscheidende Nuance ergänzt. Barcelona spielt jetzt nicht nur schön, sondern gleichzeitig nüchtern und zielstrebig, der Lohn war im Mai der Gewinn der Champions League.

Viel Geld für wenig Stress

Jetzt hat sich Marquez einem anderen Ziel verschrieben. Er ist dabei, auch "El Tricolor", wie Mexikos Nationalteam genannt wird, eine andere Mentalität zu vermitteln. Eine Einstellung, die sich abhebt von jener Genügsamkeit, die mexikanische Abordnungen seit Jahrzehnten meist früh scheitern ließ bei Weltmeisterschaften. Nur zweimal kamen sie bis ins Viertelfinale - 1970 und 1986, als sie Gastgeber waren.

Marquez ist kein lauter Anführer, aber er lebt Dinge vor, die abfärben könnten auf die Kollegen. Und bei einigen hat er offenbar schon Gehör gefunden mit seiner Empfehlung, es müssten viel mehr Profis das Land verlassen, um die Herausforderung in Europas großen Ligen zu suchen.

Bislang waren es außer ihm nur zwei - Jared Borgetti bei den Bolton Wanderers in England und Guillermo Franco beim FC Villareal in Spanien.

Der Rest hatte es sich daheim bequem gemacht, weil man in Mexiko viel Geld für wenig Stress bekommt. Inzwischen aber hat Außenverteidiger Carlos Salcido seinem Klub Chivas Guadalajara mitgeteilt, er werde nach der WM nicht zurückkommen.

Omar Bravo, zweimaliger Torschütze beim 3:1 über Japan, hat noch nichts gesagt, aber auch er wird Chivas verlassen - womöglich Richtung Atlético Madrid, wo gerade Javier Aguirre angeheuert hat, der Mexikos Team bei der WM 2002 in Japan und Südkorea coachte. Und selbst Oswaldo Sanchez, der 33-jährige Torhüter, träumt von einer später Karriere in Übersee.

Vorbild Marquez

Rafael Marquez, 27, dient allen als Vorbild. Seit er vor vier Jahren von Atlas Guadalajara zum AS Monaco wechselte, hat er sich zum Musterprofi entwickelt. Schon zwölf Monate später holte ihn Barcelona.

Nur einmal wurde er zurückgeworfen in seiner imponierenden Entwicklung - als er sich im vergangenen Jahr das Kreuzband riss und für mehrere Monate ausfiel. Eine harte Zeit war das, aber auch sie hat ihn offenbar gestärkt.

In der Champions League spielte Marquez im Frühjahr überragend. Und im Rückblick scheint er selbst zu staunen, wie er mit dem Rückschlag fertig geworden ist: "Ich war schon im Abwärtsstrudel", erzählte er kürzlich, "und jetzt spiele ich den besten Fußball meines Lebens."

Womöglich spielt auch dieses mexikanische Team inzwischen den besten Fußball in der Geschichte des Landes. Und bestimmt hätte Rafael Marquez das Zeug, als eine der großen Persönlichkeiten dieser WM in die Fußball-Geschichte einzugehen.

Es gibt nur ein kleines Problem: Im Achtelfinale würde der Gegner höchstwahrscheinlich Holland oder Argentinien heißen. Wenn es dann kommt wie befürchtet, wird Marquez eines seiner Lieblings-T-Shirts wohl weiter nur den Erfolgen mit dem FC Barcelona widmen können. Darauf steht: "In einer schwarzen Nacht stahlen wir die funkelnden Sterne."

© SZ vom 16.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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