100 Meter Hürden:Sanierte Ruine

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Als sie realisiert, dass sie soeben einen Weltrekord gebrochen hat, bricht Kendra Harrison im Londoner Olympiastadion in Tränen aus. (Foto: Matt Dunham/AP)

Die US-Amerikanerin Kendra Harrison stellt in London Usain Bolt in den Schatten: Sie bricht aus dem Nichts einen 28 Jahre alten Weltrekord. Eine Cinderella-Story mit Verdachtsmoment.

Von Johannes Knuth, London

Und dann schwoll am Freitagabend plötzlich der Lärm im Londoner Olympiastadion an, als habe jemand am Lautstärkeregler gedreht. Die 100-Meter-Hürdenläuferinnen waren gerade ins Ziel gerauscht. Die Amerikanerin Kendra Harrison war als Erste eingetroffen, nach 12,57 Sekunden. Für Harrison ist das mittlerweile business as usual, im Mai hatte sie die Strecke bereits in 12,24 Sekunden hinter sich gebracht. Dann korrigierten die Zielrichter am Freitag noch einmal die Zeiten. Es ist ein behördlicher Akt, oft geht es um eine Hundertstel mehr oder weniger, aber Harrison war so flink unterwegs gewesen, dass zunächst offenbar auch die Zeitmessung überrascht gewesen war. Nach ein paar Sekunden spuckte der Computer jedenfalls 12,20 Sekunden aus. Jetzt wurde auch Harrison aus ihrer stillen Zufriedenheit gerissen, sie sank zu Boden, ihr Lauf war gerade ein Fall fürs Sportgeschichtsbuch geworden. 12,20 Sekunden, das ist Weltrekord.

"Weltrekord-Halterin, das klingt unglaublich", sagte Harrison, 23, aus Tennessee. Es war ein wenig geschwindelt, wie sie umgehend gestand: "Ich hatte den Rekord im Hinterkopf. Ich wollte der Welt zeigen, dass ich es noch immer draufhabe." Noch immer?

Der Freitagabend beim Diamond-League-Meeting in London stand am Ende wieder im Schatten von Jamaikas Spaßsprinter Usain Bolt. Aber die Geschichte, die Harrison zunächst vortrug, haben sie in London natürlich gerne mitgenommen: eine junge Läuferin, aufgewachsen bei Adoptiveltern mit zehn Geschwistern, erste Erfolge in der High School, als sie in Turnschuhen fast Landesmeisterin wurde. Die sich dann dem ehemaligen Dreispringer Edrick Floreal anschloss, in die internationale Spitze fand und in 12,24 Sekunden im Mai in Eugene schon mal in die Nachbarschaft des Weltrekords vorstieß (12,21). Harrison war jetzt ein Versprechen für Rio, für Olympia, aber in Amerika sind schon viele olympische Träume an der kühlen Auslese bei den Trials zerschellt.

Die alte Bestmarke stammt aus einer Epoche des Dopings

Nur die besten Drei bei den nationalen Meisterschaften werden zugelassen, wer sich verletzt, einen Schnupfen hat oder weiche Knie bekommt, bleibt halt zu Hause. Harrison wurde Sechste. "Du musst unter Druck dein Bestes geben, und das habe ich damals nicht geschafft", sagte sie London. Am Freitag ließ sie alle, gegen die sie bei der Olympia-Zulassung verloren hatte, hinter sich - allen voran Brianna Rollins (12,57). "Ich bin hier mit viel Wut im Bauch hergekommen", sagte Harrison. Aber am Ende sei aus der schlechten Erfahrung bei den Trials noch etwas Gutes gewachsen, so sah sie das zumindest.

Ob das alle Beobachter in der Szene auch so sehen, darf man bezweifeln. Der alte Weltrekord über die Hürden stammt von 1988, aus einer Epoche, in der die Athleten oft und tief in den Steroidtopf griffen, ohne lästige Folgen fürchten zu müssen. Getestet wurde bis in die späten 80er Jahre hinein nur bei Wettkämpfen, wenn überhaupt. Urheberin des alten Rekordes war die Bulgarin Jordanka Donkowa, und Bulgariens Auswahl wurde damals von vielen merkwürdigen Geschichten umtost.

Als Donkowa 1986 den Rekord egalisierte, wurde der Zeit die Anerkennung verweigert, die Dopingprobe war angeblich beim Transport ins Labor kaputtgegangen. Donkowa ließ sich davon nicht beirren und fabrizierte vier weitere Weltrekordläufe, stets ohne Beanstandungen. Harrison ist nun recht forsch in dieses verminte Feld vorgestoßen. Viele Sprint-Weltrekorde stehen ja seit den Achtzigerjahren unverrückt in der Landschaft, wie Ruinen, die an die Auswüchse einer verseuchten Zeit erinnern. Und jetzt? Es gilt das gesehene Bild, solange nicht andere Wahrheiten hervorkommen. Harrison selbst sagte: "Mein Trainer hat mir vom ersten Tag an gesagt, dass ich das schaffen kann. Ich musste mich nur selbst davon überzeugen."

Da war doch noch was: Usain Bolt und sein ewiger Zirkus

In London haben sie Harrisons Rekord natürlich mit Freude entgegengenommen, man spürte am Freitag, wie Zuschauer und auch manche Athleten plötzlich aus ihrer höflichen Zurückhaltung gerissen wurden. Dreispringer Christian Taylor kroch im letzten Versuch in die Nähe des Weltrekords (17,78). Die Britin Laura Muir verbesserte in 3:57,49 Minuten den Landesrekord. Die deutschen Starter streuten ein paar ordentliche Leistungen ein, Speerwerfer Johannes Vetter wurde mit 82,89 Metern Vierter, Kugelstoßer David Storl am Samstag Dritter, beim zweiten Akt der Veranstaltung, mit 21,39 Meter, Saisonbestleistung. Andere wiederum, wie Cindy Roleder, seit zwei Wochen Europameisterin über 100 Meter Hürden, wurden daran erinnert, dass sie in Rio auf ein anderes Niveau prallen werden als zuletzt in Amsterdam. Roleder blieb in 12,88 Sekunden im Vorlauf hängen. Noch was?

Ach ja, Usain Bolt. Der Jamaikaner arbeitete routiniert das übliche Protokoll ab: die Sternendeuter-Geste, die Präsentation vor dem Wettkampf (auf der Ladefläche eines Geländewagens), Platz eins über 200 Meter, in 19,89 Sekunden. In Rio ist er nun sicher dabei, der Verband hatte über seine Lieblingsstrecke ja noch einen Leistungsnachweis verlangt, nachdem Bolt sich Anfang Juli am Oberschenkel verletzt hatte. Aber der 29-Jährige hat sich ziemlich anstrengen müssen, da war wenig von der Leichtigkeit zu spüren, mit der er sich gerne kleidet. "Ich war ganz schön eingerostet. Ich muss einfach weiter arbeiten", sagte er. Woran? "Keine Ahnung", entgegnete Bolt, "das überlasse ich meinem Trainer."

Allzu lange hat sich Bolt freilich nicht mit seiner zarten Unzufriedenheit aufgehalten. Die Verletzungen, der Trainingsrückstand, die Comebacks, sie gehören mittlerweile fast zum Geschäftsmodell. Die Amerikaner führen noch die besseren Zeiten in diesem Jahr mit sich, vor allem Justin Gatlin, aber beim Höhepunkt, ob Olympia oder WM, hat Bolt sie bislang meistens eingefangen, wie auch immer. "Ich bin auf Kurs", sagte er, "ich fühle mich definitiv besser als im vergangenen Jahr." London, fand Bolt, war ein kleiner Erfolg in einem Spiel, das er bislang noch immer gewonnen hat.

© SZ vom 24.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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