100 Meter:Düstere Erinnerungen trüben eine tolle Nacht

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100-Meter-Sieger Justin Gatlin sieht sich als Vorläufer einer sauberen Generation von Athleten.

Von Thomas Hahn

Die Entscheidung war gefallen, das Ereignis hatte seinen Sieger, und nun begann die Show aufs Neue. Es wurde hektisch in den Gängen, die aus der Arena in die Katakomben des Stadions führten.

Es schien, als hielten Amerikas Sprinter ihren eigenen Basar ab, auf dem sie die verschollen geglaubte Kraft ihres Sports feilboten. "Keiner da draußen vor den Fernsehern, Radios oder wo sie uns sonst noch erleben, weiß, was passieren wird", rief Shawn Crawford, 26, der Viertplatzierte des 100-Meter-Finals.

Kommen Sie, staunen Sie! Und mit der heiseren Aufgeregtheit eines Marktschreiers pries er auch den erfolgreichsten Mann des Abends an, Justin Gatlin, 22, den neuen Olympiasieger, den schnellsten Mann dieser Spiele: "Er ist mein Zimmernachbar. Wenn er gewonnen hat, habe ich auch gewonnen."

Bronze-Gewinner Maurice Greene, 30, sprach von "großartiger Unterhaltung" und sagte: "Ich glaube, ich bin noch nicht am Ende. Ich renne weiter." Und aus einer Traube sich drängelnder Menschen drangen Satzfetzen einer weiteren Volksrede nach außen. Gatlin selbst berichtete von seinem Glück.

So hatten die US-Amerikaner es sich vorgestellt: Sie waren angetreten, um mit einem Spektakel die Düsternis der vergangenen Monate vergessen zu machen, und sie machten ihre Sache gut.

Blitzrennen

Das Finale wurde zu einem Blitzrennen mit vier Männern unter 9,90 Sekunden: Gatlin (9,85), Portugals Francis Obikwelu (9,86/Europarekord), Greene (9,87), Crawford (9,89).

Im Halbfinale hatten Gatlin und Crawford die Demonstration amerikanischer Überlegenheit auf die Spitze getrieben, als sie noch vor dem Ziel ihre Ambitionen besprachen.

Dieser Abend sollte eine Werbung für den US-Sprint sein, Gatlin sagte: "Wir wollen die positive Einstellung zu unserem Sport zurückbringen."

Dazu wird es mehr brauchen als eine tolle Nacht, denn selbst in dieser kam man irgendwann zurück auf den Dopingskandal um den Nahrungsergänzungshersteller Balco.

Die Sportler hatten sich schon zurückgezogen, als Trevor Graham, Trainer von Crawford und Gatlin in Raleigh/North Carolina, eine Frage beantwortete, welche alle Stationen des Skandals in Erinnerung rief: die Entdeckung des Designer-Steroids THG, die bundesbehördlichen Ermittlungen gegen THG-Produzent Balco, das Geständnis der Sprinterin Kelli White, die Dopingklage gegen 100-Meter-Weltrekordler Tim Montgomery, den Verdacht gegen Sydney-Olympiasiegerin Marion Jones.

Die Frage lautete: "Trevor, glauben Sie, Gatlin hätte gewonnen, wenn Sie nicht die Spritze mit der THG-Probe beim Antidopinglabor in Los Angeles eingeschickt hätten?"

Graham wollte sich nicht festlegen, er sagte nur: "Ich war einfach der Trainer, der damals das Richtige getan hat." - "Sie bereuen nichts?" - "Ich bereue überhaupt nichts."

Märtyrer im Dienste der Moral

Man hatte in diesem Moment den Eindruck, als sehe sich Trevor Graham in der Rolle des Märtyrers, der im Dienste der Moral ein Geheimnis aus den Chemietöpfen der Szene preisgegeben hat.

Es stimmt ja, dass sein Einsatz erst den Test auf THG möglich machte. Andererseits ist Graham als früherer Trainer von Jones und Montgomery sowie ehemaliger Balco-Partner viel zu lange Teil dieser schmutzigen Sprintindustrie gewesen.

Und wenn die Erkenntnisse stimmen, hat Graham nicht die Moral auf die Seite der Dopingfahnder getrieben, sondern sein Zerwürfnis mit Balco-Chef Conte und die Furcht, dass die Konkurrenz mit dessen chemischen Keulen seinen Athleten den K.o. versetzt.

Die Zweifel bleiben, auch gegenüber Crawford und Gatlin. Sind sie wirklich sauber? Immerhin, Letzterer stellte sich offen dem Zweifel. "Ich sehe mich als den sauberen, geborenen Champion", sagte Gatlin und verwies auf eine Athletengeneration, die mit Fleiß und Hingabe die Probleme seines Sports vergessen machen wolle.

"Sie zeigen: Hey, ich kann da rausgehen und mit einem Lächeln im Gesicht laufen." Vielleicht entlastet ihn aber doch eher eine Episode vom Beginn seiner Karriere, aus der er gelernt hat: "Du musst verstehen, dass du verantwortlich bist dafür, was auch immer in deinen Körper reingeht. Ich dachte immer, ich bin der gute Junge. Ich wusste nicht, dass es etwas Verbotenes war. Aber ich habe es genommen."

Adderall hat er genommen, ein Stimulans, das ihm seine Ärzte verschrieben hatten. Justin Gatlin leidet seit seiner Kindheit an Konzentrationsschwäche, zehn Jahre lang nahm er verschiedene Medikamente, bis er auf Adderall angesetzt wurde.

Das Mittel stand auf der Dopingliste, prompt wurde Gatlin 2001 bei den amerikanischen Juniorenmeisterschaften positiv getestet. Drei Titel kostete ihn das, dazu wurde er zwei Jahre gesperrt, was der Weltverband IAAF allerdings wegen seiner Krankengeschichte nachträglich um ein Jahr verkürzte.

Seitdem darf er sich nicht die kleinste Ungereimtheit mehr leisten. Beim nächsten Dopingbefund droht eine lebenslange Sperre.

Justin Gatlin gilt schon lange als größtes Sprinttalent Amerikas. Er selbst sieht sich als Wettkampftyp, was erstaunlich ist für einen Mann mit Konzentrationsschwäche, und jetzt, da er Olympiasieger ist, will er anfangen, Argumente zu sammeln, um eines Tages Maurice Greene als selbst ernannten "Größten Athleten aller Zeiten" abzulösen.

"Das", sagt Justin Gatlin, "ist mein letzter Ansporn." Er will sich viele Jahre dafür Zeit geben.

© SZ vom 24.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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