Magic Moments:Die schlimme Nacht von Belgrad

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Erst verschießt der Hoeneß-Uli, und dann kommt dieser tschechoslowakische Oberlippenbartträger namens Panenka. Die EM 1976 ist ein grenzwertiges Turnier für Sextanerseelen. Aus unserer Reihe "Magic Moments".

Thomas Becker

Es war spät geworden, mal wieder. Verlängerung, Elfmeterschießen: Da liegen Elfjährige normalerweise längst im Bett. Aber schließlich war ja Finale, mal wieder. 72 gewonnen, 74 gewonnen - warum sollte ausgerechnet 76 was schiefgehen?

Wahnsinn, dieser Lupfer: Antonin Panenka überwindet Sepp Maier. (Foto: Foto: dpa)

Naja, das Halbfinale war schon grenzwertig gewesen, einer zarten Sextanerseele eigentlich nicht zumutbar. Nullzwei hinten gegen die Jugoslawen und doch noch gewonnen - wie soll man sich nach so was am Morgen danach auf Geometrie konzentrieren? Dem meistgehassten Mathe-Lehrer der Stadt war das egal; er teilte die wie üblich missratenen Klassenarbeiten aus, begleitet von seinem Lieblings-Zynismus: "Ob Sonnenschein, ob Sternenfunkel - im Tunnel ist es immer dunkel." Im Finale waren wir trotzdem.

Elferschießen, die Krönung

Im Finale gegen die Tschechoslowakei. Und wieder nullzwei hinten. Doch dann traf dieser Dieter Müller und in der allerletzten Minute auch noch Bernd Hölzenbein, der Elfer-Schinder von 74. Als ob das rein nervlich nicht schon gereicht hätte: auch noch Verlängerung. Und, zur Krönung: Elferschießen. Gab es das überhaupt schon mal in einem großen Finale? In meinem Leben jedenfalls nicht.

Es fing gut an, alle Deutschen trafen: Bonhof, Flohe, Bongartz. Dumm nur, dass der Maier Sepp nichts hielt. Ein Strafstoßkiller war er wirklich nie. Er sollte es auch nicht mehr werden. Dann kam Hoeneß und schoss in den irgendwie nebligen Nachthimmel. Was darauf folgte, hatte die Welt noch nicht gesehen, wir Schulhofkicker erst recht nicht. Bis heute gibt es kein Wort für dieses Schüsschen des Schnauzbarts.

Antonin Panenka, Oberlippenbartträger und Mittelfeldmann von Bohemians Prag, später bis ins hohe Alter von 45 Jahren (in Kleinwiesendorf, Österreich) aktiv, schoss seinen Elfer mitten aufs Tor. Mit der Kraft und Geschwindigkeit eines etwa elfjährigen Schulhofkickers. In die Mitte des Tores! Ein Lupfer! Mit Absicht! Weil jeder Keeper in irgendeine Ecke hechtete, um eine Chance zu haben. Denkt sich Panenka: Schieß ich halt locker in die Mitte. Was für ein Gauner!

Wahrscheinlich würde mir heute noch der staunende Mund aufstehen, hätte mich die Mutter nicht energisch ins Bett geschickt. Die schlimme Nacht von Belgrad war vorbei - meine fing da gerade erst an.

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