Live-Blog-Nachlese:HecTOR!

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Michael Ballack träumt von Führungsspielern, bevor sich Bastian Schweinsteiger aus Dankbarkeit "Hector" auf die Wade tätowieren lässt.

Von M. Schneider und J. Beckenkamp

Ciao ragazzi, liebe Leidensgenossen des Fußballs! Heute müssen wir alle gemeinsam stark sein, denn es geht gegen Italien, dieses Traumaland des deutschen Gutkicks. Wo Italiener mitspielen, kriegen wir ja meistens nur den Pokal fürs Frühaufstehen. Davon kann man sich aber weniger kaufen als von einem 1000-Lire-Schein. Gut, mit dem konnte man sich früher wenigstens eine Fluppe anzünden, aber das ist lange her. Hier in der nördlichsten Stadt Italiens ist heute Abend Autokorso garantiert. Entweder führt um 23 Uhr ganz Bogenhausen mal seinen Porsche Cayenne vor die Tür - oder sämtliche Italiener der Stadt fahren mit ihren Vespas Kolonne. So oder so: Wird bestimmt mächtig deutsche Vita geben. Es freut sich auf einen tiramisubesoffenen Abend: Der SZ-Liveticker in Lago-Laune.

Die deutsche Aufstellung: Was sagt uns Löws Formation? Die sogenannte Ochsenabwehr feiert ihr Revival.Boateng, Hummels, Höwedecci. Diese drei Paarhufe kriegen es hinten mit Meister Eder und Wurst-Pelle zu tun. Eine Ochsenabwehr bot ein DFB-Team übrigens auch auf, als in ebenjener noch Chrissi Wörns ("der is so'n Mädschn, der Kroate") um sich schnaubte.

Die italienische Aufstellung: Wieder dabei in der italienischen Panzerknacker-Defensive: Der eisenharte Leonardo Bonucci und der Pate des Verteidigungsgemetzels, Giorgio Chiellini. Der schiefe Zahn aus Pisa, bei dem gemeinhin immer "Autschovies" auf die Pizza kommen. Chiellini, my friends, das ist der Typ, der im Stahlwerk sein Tagwerk verrichtet - als Stahl.

Im TV-Studio: Da, grad ist es passiert: Die ARD hat schon wieder "Packing" gesagt. Noch penetranter erwähnen nur Veganer, dass sie vegan leben, Berliner ihren Kiez und deutsche Erasmus-Studenten nach ihrem Spanien-Jahr, dass man die Stadt 'Barfffelona' ausspricht.

Anpfiff: Die Deutschen schwärmen aus, platzieren ihre Handtücher über ihren Gegenspielern und stellen sich ans Buffet. Die Italiener: Rutschen ihre Sonnenbrillen zurecht und schütteln die Köpfe.

Schweinsteiger kommt für Khedira: Also nochmal ganz langsam: Der Typ, der in diesem Jahr bei seinem Verein exakt 110 Minuten Fußball gespielt hat, soll jetzt als Mittelfeld-Motor die härteste Abwehr des Weltfußballs knacken. Nunja. Sagen wir mal so: In die Verlängerung sollte es nicht gehen. Aber was passiert, wenn dieser blutende Held von Rio jetzt wirklich die Italiener erlegt? In jedem Krankenhaushinterhof von Garmisch bis Flensburg werden sie Bronzestatuen von ihm errichten mit der der Aufschrift: "Der Heroe der Versehrten. Er überwand Gips, Kernspin und Druckverband und führte die Deutschen ins Licht."

Die erste Halbzeit: Derweil knattert Manuel Neuer mit seiner Vespa Richtung Außenlinie und haut den Ball raus. Aber so insgesamt, ist jetzt mal unser Gefühl, sieht das gar nicht so gut aus.Italien spielt so unglaublich fies abwartend, wie der Typ in den Filmen, von dem man von Beginn an denkt: "Der weiß mehr als die anderen, der hat einen Plan." Buffon guckt nach rechts, guckt nach links. Dann lächelt er wissend.

Das 1:0: Und Tooooooooooooooooooooooooooor für Deutschland. Mesut Özil macht die Bude. Aber wie: Ein Özil-Pass von Gomez und ein Gomez-Tor von Özil. Wahnsinn. Das Trauma, die Angst, all das verschwindet wie eine Portion Stracciatella in der roten Sonne von Capri. Wo war Mesut 2006? Warum erst jetzt? Wie viel Schmerz hätte er den Deutschen erspart, wie viele Fanmeilen würden immer noch feiern? Noch 25 Minuten.

Das 1:1: Elfmeter für Italien. Jerome Boateng steht im Sechzehner wie Leonardo di Caprio am Bug der Titanic. Hand. Und Tor für Italien. Die Ruhe von Joachim Löw, die ständige Wir-haben-kein-Trauma-Wiederholung, alles nur Illusion, alles nur leere Hülle, alles nur italienische Dörfer. Bonucci überwindet Manuel Neuer, der seit dem Marsch von Hannibal über die Alpen kein Gegentor mehr kassiert hat mit einem Elefantenschuss vom Punkt. Ein Dolch in der Vita.

Verlängerung. Und im Elfmeterschießen könnte sich dann Folgendes ereignen: Italiens Schützen treten mit solcher Inbrunst an, dass die Bälle schon vom Geschrei der Schützen ins Tor rauschen. Und auf deutscher Seite findet sich außer Kimmich nur noch Neuer als Schütze. Der Rest kauert am Mittelkreis in seinen Leibchen. Und irgendwo haucht Michael Ballack das Wort "Führungsspieler" an seine Autoscheibe.Wenn Thomas Müller sich einen Thomas-Müller-Moment aufgehoben hat: Jetzt wäre der Zeitpunkt. Mit rechts gegen die linke Wade ans Kinn gegen den Innenpfosten und dann rein. So irgendwie halt.

Dann ein Konter wie ein schnurrender ICE. Ballgewinn, zack, zack, plötzlich geht Draxler ab wie ein Chinaböller, sprintet von Wolfsburg bis nach Berlin. Will gar nicht mehr zurück. Einfach nur raus aus dieser Einöde am Mittellandkanal. Doch sein Pass landet an der Autobahnausfahrt Peine-West. Thomas Müller winkt müde. Hätte so gerne auch mal in Berlin einen drauf gemacht.

Das Elfmeterschießen: JONAS HECTOR TRIFFT. DER SAARLÄNDER TRIFFT. DEUTSCHLAND IM HALBFINALE. Uuiuiuiuiuiuiuiuiuiuiuiuiuiui der Elfmeter geht zwischen Arm, Oberschenkel und Nebenniere von Buffon irgendwie ins Tor. Gut geschossen war der nicht. Aber wie unfassbar egal ist das. Noch nie war irgendwas egaler. Und Bastian Schweinsteiger lässt sich Jonas Hectors Namen auf die Wade tätowieren. Aus unendlicher Dankbarkeit.

© SZ vom 03.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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