Ligapokal: Schalke - Bayern:Die Neun muss stehen

Lesezeit: 4 min

Willkommen im üppigen Sprachgarten des deutschen Fußballs: Der Wandspieler gilt ab sofort als neuer taktischer Begriff. Der Prototyp ist Kevin Kuranyi.

Christof Kneer

Bis heute ist sich die Forschung nicht sicher, wer Kevin Kuranyi wirklich ist. Für die einen ist er der technisch schwächste Nationalstürmer in der DFB-Geschichte, was gemein und übertrieben ist. Für die anderen ist er der technisch beste Nationalstürmer in der DFB-Geschichte, was schmeichelhaft und ebenfalls übertrieben ist. Richtig ist, dass es sich hier um ein Rätsel auf zwei Beinen handelt. Kuranyi ist eine Art Rumpelbrasilianer, er kann geschmeidig kombinieren und im nächsten Moment den Ball so wegspringen lassen, dass man nicht weiß, ob er ihn stoppen wollte oder ob das nicht doch ein Fernschuss war. Vielleicht muss man bei ihm zwischen Technik (mittelmäßig) und Ballgefühl (überragend) unterscheiden, vielleicht ist es aber auch ganz anders. Vielleicht ist Kuranyi nämlich ein Wandspieler.

Kevin Kuranyi: Inbegriff des Wandspielers. (Foto: Foto: dpa)

Im Namen des Fußballs sind schon die wunderlichsten Geschöpfe geboren worden, Kopfballungeheuer etwa oder Brecher, Knipser, hängende Spitzen. Von Strafraumstürmern hat man ebenso raunen hören wie von Keilstürmern, auch die Existenz von Goldköpfchen und sogar von Billigbombern gilt als gesichert. Für die Forschung war es also eine Sensation, als Ottmar Hitzfeld jüngst in einem kicker-Interview von der Existenz eines neuen Wesens berichtete - der ideale Offensivmann, so Hitzfeld, müsse ein "Wandspieler" sein, und um sein neues Geschöpf nicht in den Yeti-Verdacht geraten zu lassen, nannte er zwei konkrete Beispiele: den Wandspieler Miroslav Klose und den Wandspieler Luca Toni.

Als Wortschöpfer ist Hitzfeld bisher nicht auffällig gewesen, wenn man davon absieht, dass der Profffi zweifelsfrei auf ihn zurückgeht. Auch im Fall des Wandspielers liegt das Patent nicht bei ihm und auch nicht bei Joachim Löw, dem der Wandspieler schon im März erschien, als er vor dem Länderspiel in Prag vor dem Wandspieler Koller warnte. Als Entdecker dieser neuen Spezies darf DFB-Scout Urs Siegenthaler gelten, der als Vertrauter von Hitzfeld und Löw zu einer Art mastermind im deutschen Fußball geworden ist. Sein Kopf steckt hinter vielen Ideen, und nicht selten hört man seine Begriffe aus anderen Mündern. "Ich spreche manchmal etwas bildhaft'', sagt Siegenthaler, "sicher habe ich in Gesprächen mit Joachim und Ottmar auch mal den Wandspieler erwähnt."

Man darf den Wandspieler jetzt also willkommen heißen im üppigen Sprachgarten des deutschen Fußballs - oder besser: Man darf ihm zu seinem Aufstieg gratulieren. Experten kannten den Wandspieler höchstens aus der Trainingslehre, weil damit jener Spieler bezeichnet wird, der beim Schusstraining angespielt wird und dann den Ball in den Lauf prallen lässt. In dieser Ligapokal-Woche aber wurde der Wandspieler zu einem offiziellen taktischen Terminus aufgewertet. In dieser Woche hat sich der Wandspieler als eine moderne Nummer neun zu erkennen gegeben, er hat gezeigt, wie er spielt und was er kann. So hat der Schalker Kuranyi in Nürnberg drei Tore vorbereitet - immer ist er angespielt worden und hat den Ball direkt weitergeleitet, mal passend, mal prallend, obwohl die Verteidiger mächtig an ihm zerrten. Einen Tag später hat der Münchner Sandro Wagner einen Ball mit der Hacke abgelegt, worauf Ribéry erst seinen Schuss zum 1:0 absetzen konnte. Siegenthaler hat das alles sehr gefallen, ,,die Stürmer hätten sich ja auch fallen lassen können, um einen Freistoß zu schinden''. Aber sie fielen nicht. Sie blieben stehen wie eine Wand.

"Heutzutage braucht man mehr denn je Stürmer, die die Bereitschaft haben, auf den Beinen zu bleiben'', sagt Siegenthaler. "Wenn man sich fallen lässt, gibt's Freistoß, und der Gegner hat Zeit, sich wieder zu formieren. Nur wer steht, hat die Chance, den Ball weiterzuspielen und eine Überzahlsituation zu schaffen. Wir müssen unsere Stürmer viel mehr in diese Richtung ausbilden.'' Solche Spieler hat es immer gegeben, aber sie waren nie so wichtig wie jetzt, da die Abwehrblöcke so perfekt im Raum stehen, dass man nur noch mit Hochgeschwindigkeitsdirektspiel an ihnen vorbeikommt. Dank des modernen Fußballs hat die Wand als solche also eine ungeheure Aufwertung erfahren; sie steht jetzt nicht mehr nur dumm rum, sie ist jetzt richtig kreativ. Der moderne Wandspieler muss nicht groß sein, er ist kein Brecher wie einst Horst Hrubesch, dessen Spiel nur aufs Tor konzentriert war. Er muss auch nicht kräftig sein wie Carsten Jancker, dessen Spiel nie aufs Tor konzentriert war und der bauartbedingt eher zum Schrankwandspieler taugt. Der moderne Wandspieler ist stabil oder zumindest schnell genug, um sich zwei, drei Gegenspieler vom Leib zu halten; er ist begabt genug, um trotz zwei, drei Gegenspielern noch einen Mitspieler für den Doppelpass zu finden; und er ist Stürmer genug, um im Zweifel selbst aufs Tor zu schießen. Der Wandstürmer gibt dem Spiel Ziel und Richtung - die Mitspieler wissen, dass er da ist und dass sie ihn da vorne immer anspielen können und dass er den Ball nicht kaputt macht, wenn er ihn kriegt.

So ist diese Art von Wand zum tragenden Teil mancher Mannschaft geworden, und es gibt Trainer, die ihre Elf gezielt um diese Wand herumbauen. So hat Nürnbergs Trainer Hans Meyer wochenlang einen Nachfolger für Stürmer Markus Schroth gesucht, obwohl der weder Edeltechniker noch Torjäger ist. Aber Schroth ist ein Wandspieler - zwar ist seine Wand nicht so kunstvoll bemalt wie bei Klose, sein Spiel ist eher roh verputzt, dennoch war er tragendes Teil des Kombinationsspiels, das im Idealfall so aussah: Galasek erkämpft im Mittelfeld den Ball, spielt steil auf Schroth, der legt den Ball raus auf die Flügel, wo Vittek und Saenko losflitzen. Nach langer Suche haben die Nürnberger jetzt Angelos Charisteas gefunden, eine Wand aus Griechenland.

Am gefährlichsten aber ist die Wand, wenn sie unsichtbar ist, so wie beim vierten Schalker Tor im Ligapokal. Dieses Tor köpfte zwar der Abwehrspieler Westermann nach einer Ecke des Mittelfeldspielers Rakitic. Aber die Ecke gab es nur, weil der Wandspieler Kuranyi sie herausgeholt hatte.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: