Leichtathletik-EM in Amsterdam:Anschwitzen für Rio

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Dank eines furiosen Schlussspurts beenden die deutschen Leichtathleten die EM auf Platz zwei der Medaillenwertung.

Von Johannes Knuth, Amsterdam

Ein Versuch stand der Speerwerferin Linda Stahl noch zu, nur dieser eine, und deshalb bereitete sie sich jetzt noch einmal gewissenhaft vor. Sie sprach sich Mut zu, ach was, sie schrie. Stieß sich dynamisch ab. Reihte einen Schritt an den nächsten, so flink hatte man sie an diesem Abend selten erlebt. Der Stemmschritt, und dann war Stahl am Ziel: in den Armen ihres Trainers Helge Zöllkau.

Stahl hatte kurz zuvor ihren Speer in den kühlen Abend von Amsterdam geschickt, zum letzten Mal in diesem Endkampf. Er sollte erst bei 65,25 Metern landen. Sie hatte sich damit nicht nur auf den Silberrang gedrängelt und Weltmeisterin Katharina Molitor auf den vierten Platz geschoben. Sie darf sich mit ihrer Weite nun ziemlich sicher für Rio einschreiben; im deutschen Speerwurf gibt es ja nur drei Startplätze für vier Fachkräfte. "Ich wusste in dem Moment gar nicht, welche Platzierung ich hab", sagte Stahl über ihren Jubelsprint, "ich habe mich mehr für Rio gefreut. Man kennt mich ja eher nicht so als hysterisch grölende Speerwerferin. Aber was heute von mir abfällt, kann ich gar nicht beschreiben."

Diese kleine, vorolympische EM in Amsterdam hat es gut gemeint mit dem Deutschen Leichtathletik-Verband, und am fünften und letzten Abend fielen ihnen noch einmal Medaillen zu, als hätten sie an einem Spielautomaten gewonnen: Gold für Hindernisläuferin Gesa Krause aus Frankfurt, nur drei Zehntel langsamer als der deutsche Rekord (9:18,85). Gold für Kugelstoßer David Storl (21,31 m), der langsam wieder in seine gewohnte Form hineinfindet. Bronze für Hochspringer Eike Onnen (2,29), der sich mit 33 zu seiner ersten internationalen Weihe im Einzel kam, wie auch Richard Ringer als Dritter über 5000 Meter (13:40,85). Jeweils Bronze auch für die 4x100-Meter-Staffeln. Platz zwei im Medaillenspiegel mit 16 Plaketten, knapp hinter Polen und vor Großbritannien.

Über sich hinausgeschraubt: Lisa Ryzeh überspringt im Stabhochsprungfinale die 4,70 Meter, holt Silber und steht damit für eine Reihe deutscher Überraschungen bei der EM in Amsterdam. (Foto: Dean Mouhtaropoulos/Getty Images)

Cheftrainer Idriss Gonschinska war bereits zufrieden, als er am Sonntagvormittag den vorläufigen Geschäftsbericht vorstellte, neben ihm hatten die Mitarbeiter des Vortages Platz genommen: Linda Stahl, 30, Stabhochspringerin Lisa Ryzih, 27, die mit 4,70 Metern Silber gewonnen hatte, in der Mitte der frisch vereidigte Europameister Max Heß, 19, aus Chemnitz. Ein Abbild einer hochbegabten Mannschaft, befand Gonschinska, "mit sehr erfahrenen Athleten, in die wir junge, hoch talentierte wie Max integrieren konnten."

Aber all das hat diese EM, die zweite nach 2012, die vor Olympia geklemmt wurde, auch nicht von dem Eindruck befreien können, dass sie vor allem eine Image-Maßnahme ist. Für den europäischen Verband, aber auch für den deutschen, der mit mehr als 100 Athleten angetreten war. Da ließ sich eine Erfolgsbilanz fast nicht vermeiden. Der Sport stand auch so tief im Schatten von Olympia, Amsterdam war ein Anschwitzen für die Spiele, die in knapp einem Monat in Rio anbrechen. Ryzih hatte sich für ihren Wettbewerb nur wenige Versuche eingeräumt, wegen Oberschenkelproblemen. "Klar hätte ich noch mehr riskieren können", sagte sie, die Höhe der Siegerin zum Beispiel. Aber was, fragte Ryzih, "wenn es dann nichts mit Olympia wird? Auch Heß schwänzte nach dem zweiten Versuch auf 17,20 einige Versuche - Kraft sparen, außerdem schmerzte sein Fuß. Andere wie Diskuswerfer Robert Harting (Formaufbau) und Stabhochspringer Raphael Holzdeppe waren gar nicht angereist, Letzterer wegen muskulärer Probleme. Er hat die Olympianorm nicht erfüllt und muss auf eine Ausnahme hoffen. Letztlich ließen sich in Amsterdam nicht nur "Wettkampfkompetenzen erwerben", wie es Gonschinska nannte, sondern auch Verletzungen. Speerwerfer Thomas Röhler, die aktuelle Nummer eins der Welt, fing sich in Amsterdam Platz fünf und eine Schulterverletzung ein. "Es gab Nächte, da habe ich gut geschlafen", sagte Gonschinska, "in anderen nicht."

Ein gültiger Versuch, ein Titel: Dreispringer Max Heß aus Chemnitz. (Foto: Koen Van Weel/dpa)

Immerhin, viele Arrivierte nahmen noch mal Selbstvertrauen für die kommenden Spiele mit (Kugelstoßerin Christina Schwanitz/Gold) oder versilberten sich das letzte Jahr ihrer Karriere (Hammerwerferin Betty Heidler, Linda Stahl). Und auch die Fortbildung, die der DLV in Amsterdam für seine junge Mannschaft ausgerufen hatte, erbrachte erstaunliche Erträge. Vor allem den von Max Heß, der an seinen ersten DM-Titel vom Juni jetzt EM-Gold reihte. "Die anderen haben ihre Chance nicht genutzt. Ich bin einfach mal weit gesprungen", sagte er trocken. Und so war Heß nicht nur ein Beispiel für angewandte Unbekümmertheit, sondern auch dafür, was alles möglich ist, wenn ein Talent an die richtige Lehre gerät. Vor vier Jahren stellte er sich in der Trainingsgruppe von Harry Marusch vor, er war ein moderater Weitspringer, aber Marusch fand einen ganz anderen Rohstoff spannender, den der junge Heß mitbrachte: die Schnelligkeit. Er hob langsam sein Können, baute ihn zu einem Geschwindigkeits-Dreispringer um. Heß springt weniger, als dass er einfach weiterläuft, so stürmisch und unbekümmert, wie er sich in große Wettkämpfe stürzt. Viele hätten Anteil daran, sagte Gonschinska, Fachpersonal bis hinauf zu Bundestrainer Charles Friedek. "Trainer, die teilweise im Wettbewerb stehen", sagte Gonschinska.

Der Cheftrainer hat am Montag noch ein paar schwere Entscheidungen zu treffen. Er muss zum Beispiel eine verdiente Speerwerferin für Rio zu Hause lassen, entweder Molitor oder Christina Obergföll, die anderen Startplätze sind für Stahl und die deutsche Meisterin Christin Hussong reserviert. Aber sonst verließ Gonschinska Amsterdam mit einem guten Gefühl. "Ich hoffe", sagte er, "dass wir noch nicht die 100 Prozent gesehen haben, die wir beim Höhepunkt brauchen."

© SZ vom 11.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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