Leerstelle auf links:Ausgeschlafen und alleingelassen

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Nach 79 Minuten ist der Arbeitstag von Marvin Plattenhardt gegen Mexiko beendet. (Foto: Christian Hartmann/Reuters)

Marvin Plattenhardt rutschte als Ersatz für Jonas Hector ins Team, kam dort aber nie wirklich an - er ist nicht der Erste, dem das so ergeht.

Von Philipp Selldorf, Moskau

Im Grunde war dieser Tag dazu geschaffen, ein großartiger Tag im Leben des Marvin Plattenhardt, 26, zu sein. Erstmals in seinem Leben hatte er bei einer Fußball-Weltmeisterschaft für Deutschland gespielt, und er hatte nicht für fünf Minuten in der dritten Partie der Vorrunde auf dem Platz gestanden, sondern von Anfang an im überaus bedeutsamen Auftaktmatch. In Plattenhardts Fall bedeutete das außer Ruhm und Ehre auch die Erfüllung eines sehr konkreten Kindheitstraums. An einer Weltmeisterschaft hatte er nämlich schon teilgenommen, als er noch ein 14 Jahre alter Bub aus Filderstadt bei Stuttgart war. Fußball spielte er damals nicht beim großen VfB, sondern beim FV Nürtingen (bevor dann der SSV Reutlingen zuschnappte), aber mit dem großen Fußball kam er trotzdem unmittelbar in Berührung - als Balljunge beim WM-Spiel zwischen Frankreich und der Schweiz 2006. Und wem durfte er bei dieser Gelegenheit den Ball zuwerfen? Dem Größten höchstpersönlich, den es damals gab, Zinédine Zidane, woraufhin sich der junge Marvin schwor, dass er eines Tages auch mal vor den Augen der ganzen Welt spielen werde.

Das war ihm nun gelungen am Sonntag in Moskau, doch Marvin Plattenhardt machte nicht den Eindruck eines Mannes, der soeben auf unvergessliche Weise seinen Lebensweg gekrönt hätte. Eher bedrückt und betreten sah er aus, als er sich dem Ausgang näherte. Wie er sich denn fühlte am Abend seines WM-Debüts, hat man ihn gefragt. "Nicht so überragend", erwiderte Plattenhardt.

Am Morgen hatte ihm der Bundestrainer erklärt, dass er gegen Mexiko den Part des grippekranken Jonas Hector übernehmen werde. Ob er einen Freudensprung getan hat nach Jogi Löws Mitteilung, das hat Plattenhardt nicht verraten, aber er hat erzählt, was er getan hat, um vor dem großen Ereignis Geist und Körper zu beruhigen - einen Mittagsschlaf hat er gemacht, und danach hat er, wie sich das gehört für moderne junge Nationalspieler, auf seinem Smartphone die App studiert, die Daten über den Gegner und persönliche Informationen bereithält.

An Plattenhardts Leistung gab es wenig auszusetzen, was allerdings auch daran lag, dass seine Beteiligung am Spiel marginal blieb. Er bekam selten die Gelegenheit, Fehler zu machen. Die Mitspieler mieden ihn auf geradezu vorsätzliche Art, auf Dauer sah es so aus wie ein stilles Misstrauensvotum und wie der konzertierte Versuch, ihn so oft wie möglich vom Spiel fernzuhalten. Durch die Isolierung des Linksverteidigers wurde das ohnehin rechtslastige deutsche Spiel noch rechtslastiger, aus dem üblicherweise hochaktiven Joshua Kimmich wurde ein hyperaktiver Joshua Kimmich. Die gesamte Konstruktion geriet in Schieflage, auch dies trug erheblich zur Konfusion beim Weltmeister bei. Während Plattenhardt sich immer wieder vergeblich für ein Anspiel anbot, beschwerte sich ein paar Meter weiter vorne Julian Draxler über die Vernachlässigung seines Flügels. "In der einen oder anderen Situation" sei das schon "frustrierend" gewesen, sagte Draxler später.

Joachim Löw hatte Plattenhardt für die Russland-Reise nominiert, um im Notfall einen Ersatz für Hector zu haben. Dies war das Resultat seines Auswahlprinzips: Ausgewogen und auf allen Positionen doppelt besetzt sollte der Kader sein, hatte Löw gesagt und damit auch die Verabschiedung von Leroy Sané erklärt. Dass seine Mannschaft den Neuling so wenig integrieren würde, das konnte Löw nicht ahnen, obwohl er einen ähnlichen Fall schon bei der WM 2014 erlebt hatte: Beim Vorrundenspiel gegen Ghana (2:2) wurde der zur Pause eingewechselte Shkodran Mustafi von den Mitspielern mindestens so konsequent gemieden wie Plattenhardt am Sonntag in Moskau. Manchmal war Mustafi auf der rechten Seite so frei wie ein Vogel - aber die Kameraden haben ihm trotzdem das Zuspiel vorenthalten.

Plattenhardt hatte kurz vor seiner Auswechslung (79.) in Moskau dennoch eine markante Szene. Im Zuge eines weiteren der hundert mexikanischen Konter sah er sich einem Duell ausgesetzt, das er nicht verlieren durfte, sonst wäre der Weg zum Tor für den Gegner frei gewesen. Plattenhardt gewann das Duell, und das war ein persönlicher Sieg, der ihm vielleicht noch helfen wird: Ob Hector rechtzeitig genesen wird vor dem Spiel gegen Schweden, ist noch nicht bekannt. Marvin Plattenhardts Kindheitstraum könnte noch ein paar Tage anhalten.

© SZ vom 19.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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