Kommentar zur Nationalelf:Chance zur Emanzipation

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Als Profi hat er wenig Aufsehen erregt, als Trainer war er meist im Ausland tätig. Nun muss sich Joachim Löw dem breiten Publikum stellen.

Philipp Selldorf

Mangels stilbildenden Charakters reicht es zwar nicht ganz fürs Lexikon der geflügelten Worte, dennoch bleiben die Sätze, die Joachim Löw am Tag seiner Berufung zum Bundestrainer vor fünf Wochen gesprochen hat, als Ausdruck seines Willens und seiner Vorstellung haften. Sie bilden sozusagen den Prolog seiner Arbeit, die Löw am Wochenende mit der Vorbereitung aufs Spiel gegen Schweden aufgenommen hat. ,,Jürgen'', sagte er, an seinen Vorgänger Klinsmann gewandt, ,,du bist hier auf dem Stuhl gesessen und hast gesagt: Wir wollen Weltmeister werden. Und ich sage auch ganz klar: Wir wollen Europameister werden.'' Daraus wird einerseits klar, dass Joachim Löw aus Süddeutschland stammt, und andererseits, dass der zehnte deutsche Bundestrainer nicht an das Werk eines Pragmatikers wie Völler, einer Lichtgestalt wie Beckenbauer oder eines rechten Verteidigers wie Vogts anschließt. Sondern an den Utopisten Klinsmann.

Niemanden dürfte das jedoch verblüffen, denn Löw ist genau deshalb eingestellt worden, damit er, wie es immer etwas esoterisch heißt, ,,Jürgen Klinsmanns Weg fortführt''. Das sollte ihm schon deshalb leicht fallen, weil er diesen Weg wesentlich mitbestimmt hat. Löw und Klinsmann haben enger zusammengearbeitet als das bisher üblich war im Verhältnis von Bundestrainer und Co-Trainer. Löw firmierte nicht als Assistent, sondern als ,,zweiter Trainer'', wie Michael Ballack einmal sagte, und in dieser halbautonomen Rolle setzte er eigene Beschlüsse durch, zum Beispiel die Nominierung David Odonkors für den WM-Kader.

Trotzdem ist Löw für große Teile des Publikums eine nur in Umrissen bekannte Figur und weit entfernt von der Prominenz seines Erblassers. Als Profi hat er wenig Aufsehen erregt, als Trainer war er meist im Ausland tätig. Es muss sich erst eine Beziehung zwischen dem Fußballvolk und seinem Bundestrainer entwickeln, und vermutlich wird der harte Alltag der Qualifikationspartien die weltfremde Schwärmerei der WM-Tage etwas abkühlen. Für Löw ist das eine Chance zur Emanzipation. Anerkennung für seine Arbeit erhält er durch den Tabellenstand. Und die Motivation seiner ausbaufähigen Elf richtet sich auf konkrete Ziele: auf Punkte, die man in Bratislava, Dublin oder Cardiff gewinnen kann.

Die Partie gegen Schweden am Mittwoch ist daher das letzte Nachwort der Ära Klinsmann und schon ein Fall von Nostalgie, bevor sie begonnen hat.

© SZ vom 16.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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