Kommentar:Verkehrsstau vorm Strafraum

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Als Stürmer darfst du heutzutage nicht mehr Torjäger sein. Falls doch, braucht es mindestens die Qualität eines Robert Lewandowski, um Gurus vom Schlage Pep Guardiolas zu überzeugen.

Von Thomas Kistner

18 Minuten. Im Fußball ist das eine Ewigkeit, 20 Prozent der Gesamtspielzeit. Darf einer guten Gewissens so lange Zeit ohne Ballkontakt bleiben? Klar, der Torwart. Oder, zweite Ausnahme, der zentrale Angreifer. Aber nur der Typ Stoßstürmer, der als klassischer Torjäger bezeichnet wird, weil er regelmäßig trifft - auch wenn er sonst nicht allzu viel am Spielbetrieb teilnimmt.

Aber natürlich gilt diese Ausnahmeregel nicht für Allzweckstürmer modernster Prägung, für diese dribbelspielstarken Pass- und Flankengeber, die Gegners Flügel aufreißen und nebenbei auch noch vollstrecken sollen. Also auch nicht für einen wie Mario Götze, der im ersten EM-Spiel gegen die Ukraine auf 18 ballfreie Minuten gekommen war.

Das Mantra der modernen Trainer lautet Ballbesitz und Überzahl

Aber nein, nichts gegen Götze, der hat ja gewöhnlich viel mehr Ballkontakte. Eben, weil er dem Anforderungsprofil des modernen Stürmers durchaus entspricht; wie fast alle seine Kollegen in den maßgeblichen Mannschaften dieses Turniers. Alle laufen und rennen sie rauf und runter, kreuz und quer, doppeln und kreuzen und sprinten in Schnittstellen, sie spielen sich einen Wolf in strategischen Räumen und Fluren. Nur eine Disziplin kommt dabei zu kurz: der überlegte Abschluss. Das Toreschießen.

Niemand ist mehr dafür zuständig, eingedenk der Aufgabenfülle in vorderster Linie, wo jeder ständig auf Achse ist und gar keine Zeit zur Konzentration aufs Wesentliche bleibt: den abgeklärten, instinktsicheren Torschuss. Das ist die Kunst des Torjägers. Der heute meist draußen bleiben muss, weil ihm die taktische Variabilität abgeht, die sich sein Trainerstratege wünscht. Dabei gibt es diesen spielstarken, ballsicheren, hochkreativen Abschlussstürmer, von dem alle träumen, ganz selten. Deshalb machen Cristiano Ronaldo und Lionel Messi seit einem Jahrzehnt den Weltfußballer des Jahres unter sich aus und schweben am Transfermarkt bis zu 100 Millionen Euro über dem Rest der Branche.

Dass bei der EM zwischenzeitlich ein zweimaliger Elfmeterschütze aus Rumänien und ein vom Glück verfolgter Freistoßheld aus Wales die Trefferliste anführten, bleibt eine Momentaufnahme. Nicht so schnell ändern wird sich aber der Verkehrsstau vor allen Strafräumen. Ein spanisch geprägter Energiefußball, zelebriert von ballfertigen Ausdauersprintern (was zu der Entwicklung alles beiträgt, sei hier ausgeklammert) verdichtet alle Räume; vielleicht muss bald das Spielfeld vergrößert werden. Keinen festen Platz hat dort der Torjäger, der Experte dafür, wie sich die Ensembleleistung ins angemessene Resultat übertragen lässt. Denn am Ende zählen nur Tore. Oft genug die, die nicht fallen.

Als Stürmer darfst du heute nicht mehr Torjäger sein. Falls doch, braucht es die Qualität eines Robert Lewandowski, um Gurus vom Schlage Pep Guardiolas zu überzeugen. Deren Mantra lautet Ballbesitz, Schlüsselstrategie ist das Schaffen von Überzahl. Das färbt nach unten ab, Nachwuchskicker werden heute auf allen Positionen getestet, Komplettheit ist gefragt. Hat einer nur die Ruhe vorm Tor, trifft er regelmäßig ins Netz? Na schön, schaun mer mal.

Dabei zeigt gerade diese EM, welche Reize das Spiel daraus bezieht, dass es offen für einfache Lösungen bleibt. Mit einem Schwarm Superstars lässt sich zwar solange übers Feld kreiseln, bis der Gegner in den Schlusssekunden erschöpft zusammenbricht - oder bis eingewechselte Torjäger die Sache entscheiden, wie Englands Vardy oder Frankreichs Griezmann. Trotzdem muss selbst bei spielerisch unterlegenen Gegnern aufgepasst werden, dass diese nicht die halbe Chance, die sie irgendwann haben, zum Tor des Tages nutzen. Per Stoßstürmer. Was dann die neue Fachwissenschaft vom Profifußball über das uralte Theorem von Gerd Müller aushebelt: "Vorm Tor darfst ned des Studieren anfangen."

© SZ vom 17.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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