Kommentar:Selbstzensur der Rübenbauern

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Die Streitkultur im deutschen Fußball hat abgenommen. Auch die Debatte zwischen Rudi Völler und Matthias Sammer ist nur "ein Lüftchen".

Von Philipp Selldorf

Noch heute kommt es vor, dass Freizeitkicker den großen René Higuita imitieren. Sie stehen im Tor und sehen den Ball in mäßigem Tempo auf sich zuspringen. Dann lassen sie die Kugel passieren, um im letzten Moment das linke Bein zu heben und den Ball mit dem Eselstritt aus dem Torraum zu befördern. Mitunter aber tut das nostalgische Kunststück weh - beim verwegenen Ausfallschritt drohen Muskelverletzungen.

Higuita, Kolumbiens früherer Nationaltorwart, trug den Spitznamen El Loco, der Verrückte. Dieser Spitzname ist ungefähr so originell wie "Der Dicke" für einen Mann, der 150 Kilo wiegt. Auch José Luis Chilavert, Higuitas Kollege aus Paraguay, hörte auf einen Kosenamen, an dem es kein Vorbeikommen gab. Er hieß "Die Bulldogge", was präzise sein Aussehen und Auftreten erfasste, und was er dadurch goutierte, dass er öfter einen Bulldoggen-Aufnäher am Trikot anbrachte.

Der jederzeit grimmige Chilavert hatte vorige Woche etwas zu feiern, er wurde 50 Jahre alt. Ursprünglich wollte er ja Präsident werden - natürlich nicht Vereins- oder Verbands-, sondern Staatspräsident -, aber der Plan hat sich noch nicht erfüllt. Deshalb engagiert sich Chilavert in den öffentlichen Medien, wie sein früherer Kollege Oliver Kahn kommentiert er das Geschehen um die Nationalelf seines Landes, jedoch in einem anderen Ton, als ihn Kahn anschlägt, wenn er bedächtig verrät, dass die Abstände zwischen den Innenverteidigern zu verbessern wären.

"Der Jogi sitzt nur rum und trinkt Espresso!" - undenkbar, dass sich Kahn so äußert

Dem aus Argentinien stammenden Nationaltrainer Paraguays, Ramón Díaz, empfahl Chilavert, das nächste Flugzeug nach Buenos Aires zu nehmen ("das Beste, was er tun kann"). Er bezeichnete Díaz als "Lügner des Fußballs, der die Hand aufhält" und als "Büroangestellten, der zwei Millionen Dollar im Jahr kassiert". Und er stellte fest: "Paraguay braucht keine Faulenzer." Unvorstellbar, dass Kahn jemals so etwas über den tüchtigen Bundestrainer sagen würde, der sich täglich in Freiburg 1000 Gedanken übers Wohl der Nationalelf macht. Andererseits wäre es vielleicht sogar wohltuend, wenn mal einer sagen würde: "Der Jogi sitzt doch nur im Café rum und trinkt Espresso!"

Am Freitag veröffentlichte Bild ein Foto von Rudi Völler, auf dem Leverkusens Sportdirektor so finster dreinblickt wie "El cazador sin clemencia", der Jäger ohne Gnade. Dazu eine riesige Schlagzeile: "Riesenzoff zwischen Völler und Sammer - Bundesliga-Manager gehen aufeinander los!" Endlich, hat man gedacht und sich heimlich auf die Lektüre gefreut. Aber dann kam raus, dass die Sportchefs aus Leverkusen und München darüber diskutiert hatten, ob die Bundesliga 2016 wegen Olympia etwas später beginnen soll oder nicht. Letztlich eine Debatte unter Büroangestellten - oder aus Sammers Sicht: "ein Lüftchen im Pappbecher".

Um einen ehrlichen Streit, impulsive Auftritte und klare Worte im öffentlichen Raum zu erleben, muss man leider auf Antiquitäten zurückgreifen, in denen der junge Teamchef Franz Beckenbauer stundenlang Journalisten beschimpft oder Uli Hoeneß über das W. in Jürgen W. Möllemann spottet. Im Zeitalter der totalen Medienpräsenz haben sich die Akteure der professionellen Dauerkontrolle unterworfen, sie praktizieren freiwillige Selbstzensur. Das ist natürlich nicht nur im Fußball so, sondern auch in anderen Sphären mit größtmöglicher Öffentlichkeit.

Offene Worte haben ihren Preis. Der TV-Experte Chilavert hat sich in all den Jahren nicht überall beliebt gemacht, Diego Maradona etwa hat ihn als "Maniok-Bauer" beleidigt. Und das wäre ja wirklich mal eine schöne Schlagzeile: "Völler zu Sammer: Nimm endlich den Zug nach Dresden, du sächsischer Rübenbauer!"

© SZ vom 08.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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