Kommentar:Helden mit Halbwertszeit

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Boris Becker und Steffi Graf bewegten die Nation. Angelique Kerber bewegt bisher nur Tennisbälle.

Von Kurt Kister

Der 7. Juli 1985 war ein angenehmer Sommertag. Es waren vielleicht nicht alle (West-)Deutschen, die an diesem Sonntagnachmittag vor dem Fernseher saßen, aber doch so viele, dass man damals sagte, ganz Deutschland habe "es" gesehen. Es - das war Boris Beckers erster Sieg in Wimbledon.

Der damals 17-jährige Schlaks, 1,90 Meter groß und semmelblond, wurde nicht nur nahezu über Nacht zum Star, sondern löste auch einen Boom des Tennissports aus. Als dann noch Steffi Graf im Juni 1987 ihr erstes Grand-Slam-Turnier, die French Open, gewann, hatte die Nation gleich zwei Lieblinge: Boris und Steffi. Für etliche Jahre dominierten die beiden vielleicht nicht den gesamten Tennissport, aber doch die Wahrnehmung der vielen, die sich in Deutschland in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre immer mehr für Tennis interessierten.

Graf und Becker wurden zu einem Phänomen. Sie verkörperten jene Erfahrung, die Benjamin von Stuckrad-Barre vor ein paar Jahren im Titel eines Buchs komprimiert hat: auch Deutsche unter den Opfern. Sind Deutsche unter den Opfern eines Anschlags oder sonst einer Katastrophe in der großen weiten Welt, dann rückt "uns" dieses Geschehen viel näher, als wenn das nicht so ist. Wenn also irgendein amerikanischer Joe oder eine tschechische Jana Wimbledon oder die Dings Open gewinnt, ist das halt Tennis, plopp, plopp, plopp. Haben "wir" aber einen, gar zwei blonde Teenager auf dem berühmten Treppchen, dann ist Wimbledon unsere Welt.

Zumindest war das so. Es war ganz besonders so, weil Boris und Steffi auch noch Strahle-Teenager waren - leistungsfähig und -willig, draufgängerisch (diese Hechtsprünge . . .) und noch dazu aus der Provinz kamen, wo bekanntlich alles herstammt, was anständig ist. Zwar wurde Boris später zum Besenkammermann und habituellen Pokerspieler. Das aber hängt damit zusammen, dass er partout kein niedlicher Teenager bleiben wollte, zu reich wurde (insgesamt 25 Millionen Dollar Preisgelder) und außerdem zu häufig ins P 1 in München ging. Da wird man so. Steffi, also Frau Graf, wurde nicht so. Ihre größte Extravaganz ist wohl, dass sie in Las Vegas lebt.

Wimbledon, Besenkammer, Dschungelcamp: Das Publikum bleibt da gerne dran

Am Samstag spielt Angelique Kerber im Finale der Australian Open. Das ist schön für Kerber, und nicht wenige Deutsche werden sich das Endspiel auf einem Bildschirm ansehen. Eine Kerber-Mania aber gibt es hierzulande nicht. Es ist eher so wie mit der Handball-EM: Ein Team kommt überraschend weit. Das nimmt man gern zur Kenntnis. Und wenn man sich speziell für Tennis oder Handball interessiert, wird das ein spannendes Wochenende. Die meisten Deutschen allerdings werden von den Dingen in Melbourne oder Krakau ein paar Zeilen auf ihrem Telefon lesen. Die große, gar nationale Aufregung findet nicht statt.

Vor dreißig Jahren waren die Zeiten anders. Damals gab es noch nicht so viele Helden wie heute. Und weil nicht alle drei Sekunden über das Netz eine neue SMS, ein neuer Link, ein neuer Held kam, hatten die Helden auch eine erheblich längere Halbwertszeit. Sie blieben über Jahre hinweg im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eben nicht nur der Fans.

Boris Becker ist vielleicht das beste Beispiel dafür, dass man als Held a. D. jahrzehntelang öffentlich halbwegs interessant sein kann. Sein Weg führte allerdings über die Berühmtheit zur Prominenz bis zum Teil-Berüchtigtsein. Am Ende eines solchen Weges liegt nicht selten das Dschungelcamp. So gesehen ist es gut, dass Angelique Kerber nur eine sehr gute Tennisspielerin ist. Das reicht ja auch.

© SZ vom 30.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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