Kommentar:Der Wert der Nische

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Rio de Janeiro, ein Sammelpunkt der Supermenschen? Der paralympische Sport ist vor seinen 15. Sommerspielen kräftig gewachsen - doch mit der neuen Größe wächst auch die Verlockung, zu betrügen.

Von  Sebastian Fischer

Ein Schwimmbad im Schummerlicht, eine Laufbahn im Regen, ein Hip-Hop-Beat. So sah sie aus, so hörte sie sich an, die Revolution. Der britische Sender Channel 4 zeigte im Werbeclip für die Paralympics 2012 britische Athleten mit Behinderung, wie sie zuvor niemand gezeigt hatte: Als Menschen, die im Schatten trainieren - und als Helden ins Licht treten. Meet the Superhumans, hieß die hochgelobte Kampagne: Vorhang auf für die Supermenschen.

Vier Jahre später hat der Sender wieder einen Clip produziert, diesmal fröhlicher, die Trainingssequenzen begleitet Jazzmusik der Superhuman Band. "Yes, I can", singt ein Mann im Rollstuhl, stepptanzende Prothesen klackern übers Parkett. Der Supermensch, das ist nun auch eine Geschäftsführerin, die im Rollstuhl ein Meeting eröffnet. Die Sportler sind nun Botschafter, die nicht mehr vorgestellt werden müssen, der neue Titel lautet: We are the Superhumans.

Der paralympische Sport steht vor seinen 15. Paralympics an der nächsten Schwelle auf seinem Weg zu breiter Akzeptanz in der Gesellschaft. Doch: Mit jedem Schritt wächst die Verantwortung.

Der paralympische Sport wird größer - und damit auch die Verlockung, zu betrügen

In Rio fallen wieder Rekorde, noch nie waren so viele Sportler dabei (4350 aus 176 Ländern), noch nie wurden die Wettbewerbe in so viele Länder übertragen (154). In Deutschland werden für Medaillen dieselben Prämien wie bei Olympia gezahlt, Deutschland stellt im Prothesenweitspringer Markus Rehm den bekanntesten paralympischen Athleten, er wird bei der Eröffnungsfeier die deutsche Fahne tragen. Rehm führt hierzulande die Debatte, dass sich Olympia und Paralympics weiter angleichen sollen; er wünscht sich, dass die Fackel gar nicht erlischt - ein fließender Übergang. Als Leistungssportler will er die Bühne vergrößern, die ihm alle vier Jahre bereitet wird, verständlich. Doch das Andersartige macht die Paralympics so besonders.

Anders als das Olympische hat das Paralympische Komitee (IPC) Russland wegen Staatsdopings ausgeschlossen. Anders als bei den Olympischen Spielen werden die rührenden Geschichten, die hinter jeder Medaille stehen, nicht so oft von großer Show überlagert. Anders als bei Olympia ist das Gemeinschaftsgefühl unter Athleten meist keine Floskel.

Doch wie bei Olympia wird auch bei den Paralympics betrogen. Im Vorfeld sind ein australischer Radfahrer, ein brasilianischer Diskuswerfer und ein türkischer Gewichtheber ausgeschlossen worden. Und der paralympische Sport hat seine eigenen Betrugsszenarien: Sportler schummeln bei der Klassifizierung ihrer Behinderung, um gegen Konkurrenten mit größerem Handicap antreten zu können - anonym haben das Athleten im Gespräch mit dem Guardian erklärt. Bei so manchem Sprinter sind die Prothesen so lang, dass es an der Grenze zum Absurden kratzt. Mit dem Wachstum der Branche, so hat es Karl Quade gesagt, Chef de Mission des deutschen Teams, wachsen auch Verdienstchancen und Verlockungen zum Betrug.

Es ist wichtig und gut für die Athleten, die genauso viel trainieren wie Olympioniken, dass die Paralympics größer werden. Doch es ist genauso wichtig, dass das IPC seine Linie gegen Doping nicht nur in Russland fährt, dass es die Klassifizierungen optimiert und erwägt, sie einer unabhängigen Organisation zu übertragen. Dass es bei allem Stolz auf Wachstum den Wert der Nische nicht vergisst.

Seit 2012 sind auch gewöhnliche Menschen mit Behinderung nach ihrer Meinung zum Superhumans-Video gefragt worden. Nicht alle waren euphorisch; manche sagten, das Video würde Druck auf sie ausüben. Man kennt das ja aus Hollywood: Die Identifikation mit Superhelden wächst in den Momenten, in denen sie nicht so super sind.

© SZ vom 07.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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