Kolumne:Die Welt der Nationalhymnen

Lesezeit: 1 min

Von Holger Gertz

Für Ioannis Manos, den Bürgermeister des Olympischen Dorfes in Athen, ist jeder Tag wie der andere. Er muss auf eine kleine Bühne, dort begrüßt er eine Delegation eines Landes, dann stellen sich alle auf, jemand hisst die Flagge, aus dem Lautsprecher dröhnt die Hymne. Dann: nächstes Land, nächste Delegation, nächste Hymne. So geht das schon die ganze Woche. Am Mittwochvormittag hörte der Bürgermeister die Hymnen von Armenien, Usbekistan, Weißrussland, Mosambik, Sri Lanka, Bahamas.

Die Hymne der Bahamas wird eher fordernd vorgetragen, sie heißt "March on, Bahamaland". Die Hymne von Mosambik ist elegisch, sie heißt "Patria Amada". Der Bürgermeister steht und lauscht, während die ganze Welt an ihm vorbeirauscht, die klimpernde, donnernde, zirpende, säuselnde, scheppernde, verspielte, martialische, klagende und jubelnde, von Blechbläsern und Saiteninstrumenten hörbar gemachte Welt.

Manchmal haben Hymnen eigenartige Texte, bei Uruguay stand neulich in einer Broschüre, die Hymne heiße "Fatherland of Death". Das war natürlich ein Druckfehler, "Fatherland or Death" muss es heißen! Manchmal klingen Hymnen nach Schlager, manchmal nach Beerdigung. Manchmal klingt die eine wie die andere. Liechtensteins Hymne nennt sich "Oben am jungen Rhein", die Melodie aber, steht im Hymnenbuch, sei identisch mit der Großbritanniens.

Wir haben das nicht nachprüfen können, wir waren nicht da, als Liechtenstein begrüßt wurde, aber Ioannis Manos hat alles gehört, Aruba, Palau, Niger, alles; er trägt diesen Anzug und blickt halbschräg zum Himmel, wenn ein fremdes Lied kommt. Er ist der Bürgermeister von allen, die Pflicht des Lauschens muss nach Genuss aussehen. Nach einer Woche voller Hymnen hat er bestimmt dicke Ohren, dabei sind einige eigentlich extra für ihn gemacht. Nepal zum Beispiel: "Möge der Ruhm dich krönen, mutiger Souverän". Das könnte so ein Bürgermeister eines olympischen Dorfes tatsächlich auf sich beziehen. Schade eigentlich, dass sie meistens nur die Instrumentalversion spielen.

© Süddeutsche Zeitung vom 12.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: