Kiel jubelt in Nürnberg:Wie im Hobbyturnier am Ostseestrand

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Glückliche Kieler Tabellenführer: Alexander Mühling (Mitte) lässt sich für seinen Treffer zum 2:2-Endstand feiern. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Der Aufsteiger Holstein Kiel ist nun Tabellenführer, weil er sogar nach einem 0:2-Rückstand im siebten Ligaspiel in Serie ohne Niederlage bleibt. Das nächste Abenteuer rückt näher.

Von Florian Bindl, Nürnberg

Wenn einer Mannschaft zum ersten Mal seit langer Zeit wieder der Aufstieg in eine höhere Spielklasse gelingt, dann fällt schnell das Wort Abenteuer. So war es 2014, als der SC Paderborn plötzlich in der Bundesliga auftauchte. So war es, als die Würzburger Kickers vergangene Saison zweitklassig waren. Und als ebensolches Abenteuer wurde landauf, landab auch der Aufstieg von Holstein Kiel in die zweite Bundesliga in diesem Sommer verkauft.

Abenteuer: Dieses Wort mit den bisherigen viereinhalb Zweitliga-Monaten der Kieler in Verbindung zu bringen, ist abenteuerlich falsch. Die Kieler Flotte trudelt keineswegs heillos unterlegen durch Fußballdeutschland und dümpelt auch nicht einem reißenden Wasserfall entgegen, der sie zurück in die dritte Liga spült. Trainer Markus Anfang, 43, liegt das Steuerrad in sicherer Hand, seine Mannschaft spielt mitreißenden Offensivfußball, mittlerweile hat sich auch die anfangs wacklige Defensivabteilung an die Zweitklassigkeit gewöhnt. Anfangs Team hat sich zu einer ernstzunehmenden Spitzenmannschaft entwickelt. Am Samstag reisten die Kieler zum ambitionierten Tabellenvierten aus Nürnberg - und haben auch dort nicht Schiffbruch erlitten. Dank ihres unbändigen Willens reichte es zu einem 2:2.

Mindestens für eine Nacht steht Kiel ganz oben

Respekt vor dem Gegner hatten die Kieler aber reichlich. Nach wenigen Sekunden schon hätte Nürnberg in Führung gehen können, die Hintermannschaft der Norddeutschen schien noch mit der Begutachtung des Max-Morlock-Stadions beschäftigt zu sein. "Ich hatte das Gefühl, die Mannschaft hat sich noch umgeguckt, dann war die erste Torchance schon da", sagte Anfang. Dass sein Team trotz beachtlicher Leistungen jede Woche Neuland betritt, weiß der Coach natürlich: "Klar sind wir ambitioniert, aber wir sind eben auch Aufsteiger. Das muss man irgendwann akzeptieren." Aufsteiger ja, aber sicher kein normaler. Zumindest für eine Nacht steht Holstein Kiel tatsächlich an der Tabellenspitze, überholte Fortuna Düsseldorf dank des besseren Torverhältnisses. "Wenn jemand getippt hätte, wer nach 14 Spielen Tabellenführer ist", glaubt Kapitän Rafael Czichos, "hätte er vielleicht alle anderen genannt, nur nicht Kiel."

Ein Leichtes war dieser Punktgewinn beim FCN keineswegs. Das Kieler Offensivspiel funktionierte nicht so wie gewohnt, die großen Torchancen hatten eher die Nürnberger. Nach einer guten Stunde führten sie 2:0, die erste Niederlage für Kiel nach sechs ungeschlagenen Ligaspielen in Serie schien besiegelt zu sein. Aber Kiel ist eben kein normaler Aufsteiger. "Die zweite Hälfte ist eine ganz eigene Geschichte gewesen und sie ist geil gewesen", grinste Czichos.

Nach dem 0:2-Rückstand stellte Anfang um, löste Dominic Peitz aus dem defensiven Mittelfeld heraus und ließ ihn neben dem eingewechselten Aaron Seydel stürmen. "Nach dem Rückstand haben wir besser zusammengespielt", so Czichos, "kann sein, dass das die Scheißegal-Mentalität war. Das hat geklappt." Seydel erzielte zwei Minuten nach seiner Einwechslung den Anschlusstreffer.

Vielleicht steht das echte Abenteuer in der nächsten Saison an

Obgleich Kiel an diesem Nachmittag nicht immer die feinste Fußballkunst servierte, schien die Lockerheit trotz des Rückstandes nicht verloren gegangen zu sein. Gerade beim Ausgleichstor wirkte es, als ständen die Kieler nicht am Rande einer Niederlage in der zweiten Bundesliga, sondern als kickten sie bei einem Hobbyturnier am Ostseestrand. Eine gefühlvolle Hereingabe von Dominick Drexler legte Peitz geschickt per Kopf zurück auf Alexander Mühling, dessen Direktschuss im Nürnberger Kasten einschlug. Das Tor zur Tabellenführung. Von der will Anfang aber gar nichts wissen. "Die Tabelle hat keine Aussagekraft, da schaue ich nicht drauf." Natürlich.

Auf die Bilder, die in den Katakomben des Nürnberger Stadions hängen, schaute er dagegen schon. "Du gehst an Max Morlock und Stefan Reuter vorbei. Das ist halt Wahnsinn", sagte er voller Ehrfurcht. Von Spiel zu Spiel erscheint es weniger abwegig, dass Anfang in der nächsten Saison auch an Bildern von Gerd Müller oder Lars Ricken vorbeigeht. Vielleicht stünde dann ein echtes Abenteuer an.

© SZ vom 19.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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