Interview mit Jens Voigt:"Der Himmel die Grenze"

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Im SZ-Interview spricht Jens Voigt über die Gründe seiner Unternehmungslust, den Führungsstil seines neuen Teamchefs Bjarne Riis, dessen früheren Mannschaftskollegen Jan Ullrich und den angehenden Rekordsieger Lance Armstrong.

Jens Voigt zählt auch bei der 91. Tour de France zu den großen Animateuren. Der 32-jährige Mecklenburger fuhr bislang mehr als 500 Kilometer in Fluchtgruppen. Bislang indes wartet er noch auf ein ähnlich erfolgreiches Ende einer Attacke wie 2001, als Voigt die Tour-Etappe nach Sarran gewann. Jens Voigt spricht über das Geheimnis des Erfolgs.

Ständig auf der Flucht: Jens Voigt (Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Voigt, schön, Sie bei der Tour mal zu treffen, sonst sind Sie ja immer auf der Flucht.

Voigt: Das ist halt mein Job, und es ist ja auch nicht so schlimm, wie man sich das vielleicht vorstellt: Man fährt einen gleichmäßigen Tritt, denn hinten im Feld bringen dich die Angriffe manchmal um. Da fährst du fünf Minuten im Roten Bereich, dann fünf Minuten ruhig, dann wieder fünf im Roten - das macht es schwer.

SZ: Machen sich die Kollegen lustig über Sie, weil Sie so viel unterwegs sind?

Voigt: Meine Teamkollegen finden das natürlich gut - so lange wir einen vorne haben, müssen sie ja hinten nichts arbeiten. Ich denke, auch der Rest respektiert das, und die kennen mich ja und wissen: Bei der Tour fahr ich vorne rum.

SZ: Sie sind sogar Samstag vorm Plateau de Beille sehr lange vorne gewesen. Wann ist Ihnen klar, dass sie nicht durchkommen?

Voigt: Das war mir nach 50 Kilometern klar, denn wir hatten ja den Rasmussen dabei, das ist so ein zäher Ekeltreter, der ja nur zehn Minuten zurück lag. Mich hätten die mit zehn Minuten in den letzten Berg reinfahren lassen, denn ich hatte ja 25 Minuten auf Armstrong. Und dann würden die immer noch mit dem Finger in der Nase an mir vorbei fahren.

SZ: Wenn Sie das wissen - wieso verausgaben Sie sich so lange?

Voigt: Habt Ihr jemals gesehen, dass jemand plötzlich aufhört, in einer Fluchtgruppe zu fahren? Nee, wenn du das machst, meinst du das ernst, dann musst du die Suppe auch auslöffeln. Du kannst nicht attackieren wie ein Bekloppter, und dann sagen: Och nö, is' mir zu schwer hier. Da muss man schon Charakter zeigen, und außerdem musste US Postal dadurch hinten Tempo machen. Das ist ja auch immer ein Grund - dass wir Druck auf die anderen Teams machen.

SZ: Und wenn Armstrong irgendwann vorbeifliegt, nehmen Sie dann etwas raus?

Voigt: Machst Du Witze? Nein, dann bin ich fertig, ich bin da am Samstag kaum noch hoch gekommen. Ich wäre am liebsten in den Graben gefallen und hätte angefangen zu heulen.

SZ: Sie sind bei CSC Teamkollege von Ivan Basso, Armstrongs neuem Herausforderer. Was zeichnet ihn aus?

Voigt: Das ist das erste Mal für mich, dass ich so einen guten Leader habe wie Ivan. Er fährt in meinen Augen extrem souverän vorne mit. Er ist ein sehr ruhiger Typ, für einen Italiener spricht er sehr wenig und nicht so schnell wie ein Maschinengewehr.

Er ist ein unheimlich vernünftiger Mensch, mit beiden Füßen auf dem Boden. Er weiß, woher er kommt und wohin er will. Ich glaube, er hat schon die Chance, eines Tages bei der Tour ganz oben zu stehen. Er ist 26 und kommt jetzt ins beste Alter. Aber er ist nicht so angriffslustig, und Bjarne versucht, das jetzt ein wenig zu ändern.

SZ: Hatten Sie mit Basso gerechnet?

Voigt: Mich hat es schon ein wenig überrascht, denn das gab es die letzten Jahre doch nie - dass einer zweimal in den Bergen bei Lance Armstrong bleibt! Und er fuhr ja auch nicht minutenlang hinter ihm, sondern neben ihm. Wie ich ihn verstanden habe, konnte er das fast ohne Probleme.

Aber es ist ohnehin alles etwas enger zusammen gerückt. Vor drei Jahren in Alpe d'Huez lag der Ulli (Jan Ullrich; d.Red.) noch zwei Minuten hinter Armstrong, und trotzdem war er noch Zweiter. Jetzt ist der Zweite bei ihm, und die nächsten 50 Sekunden dahinter oder eine Minute wieder Georg Totschnig.

SZ: Ist Armstrong trotz seiner souveränen Vorstellung schwächer geworden?

Voigt: Nicht unbedingt schwächer, aber älter. Ich glaube einfach wirklich, dass es für ihn die letzte Chance ist - nächstes Jahr schafft er es nicht mehr.

SZ: Sie kennen ihn gut, weiß er das?

Voigt: Klar weiß er das, er ist älter geworden, also auch ein bisschen weiser. Die Erholungszeiten werden einfach länger. Meine Schramme am Knie hier, die wäre vor zehn Jahren nach einer Woche weg gewesen - jetzt bin ich 32, und sie bleibt einfach länger da. Das wird ihm nicht anders gehen, denn er ist ja auch nur ein Mensch.

SZ: Wenn er weiß, dass er es nicht mehr schafft - dann fährt er 2005 nicht mehr?

Voigt: Wenn er die Tour gewinnt? Dann fährt er kein Radrennen mehr, nicht eines! Das ist meine Meinung, und ich würde es doch nicht anders machen. Darum glaub' ich ja auch, dass er es dieses Mal noch einmal schafft - weil er weiß: Das ist das allerletzte Mal im Leben, dass er sich so schinden muss. Deswegen hat er noch einmal alles reingesteckt, was er hat.

Und Lance ist doch schlau. Er hat sich die Tourstrecke wahrscheinlich jeden Tag angeschaut und minutiös jede Etappe durchgearbeitet. Er wusste dann genau: Er hat zehn Tage am Anfang, wo nichts passiert. Für einen Klassementfahrer wie ihn war die erste Woche nur ein Transport, er hat sicher nicht einmal 140, 150 Herzfrequenz gehabt, mit Ausnahme der Zeitfahren.

SZ: Jan Ullrich hat die erste Woche offenbar nicht so gut verkraftet.

Voigt: Er sah sehr gut und stark aus, er hat wie immer diese riesigen Gänge gefahren, im Schnitt sicher zwei Kränze dicker als ich. Er sah in keiner Weise geschafft aus, deshalb war ich von ihm in den Pyrenäen schon überrascht.

SZ: Ullrich stand im Herbst auch mit ihrem Chef Bjarne Riis in Verbindung. Wäre ein Wechsel zu CSC besser gewesen als der Rentenvertrag bei T-Mobile?

Voigt: Ich denke, Jan wollte einfach keine neue Sprache, keine neue Kultur kennen lernen - er wollte nur Sicherheit haben, und die bietet ihm eben Telekom. Nach seinem experimentellen Jahr bei Bianchi hat er wohl von Abenteuern die Nase voll gehabt.

SZ: Sie bedauern das sicher?

Voigt: Klar, denn wenn man jetzt sieht, wie Bobby Julich und ich letztes Jahr gefahren sind, und wie auch Jörg Jakschke jetzt plötzlich fährt, der immer ein gutes Potenzial hatte, das aber nie jemand richtig bearbeitet hat - wenn man diese Schablone theoretisch auf Jan überträgt und schaut, wo er vorher war, dann muss man schon sagen: Da wären für ihn gar keine Limits mehr da gewesen! Der Himmel wäre dann seine Grenze gewesen. Wir hätten zusammen sicher einiges bewegen können.

SZ: Was halten sie von der neuen Konstellation bei T-Mobile mit zwei Podiumskandidaten?

Voigt: Das gab es letztes Jahr auch bei CSC, als Hamilton Vierter war und Sastre Neunter. So etwas gibt es, aber das ist sicher ein Luxusproblem. Und mit einer Doppelspitze lässt es sich immer einfacher arbeiten, weil man noch einen Notfallplan hat. Und so lassen sie jetzt Klöden frei fahren, weil er auch in der Form seines Lebens ist, er kann die Lücke jetzt auffüllen. Und der Ulli hat viel zu viel Klasse, den darf man nicht abschreiben. Bei ihm weiß man nie.

SZ: Was ist Riis' Erfolgsgeheimnis?

Voigt: Bjarne möchte das beste Team der Welt haben, und deshalb muss er neue Dinge ausprobieren. Vielleicht lacht der eine oder andere jetzt über uns. Aber wenn die in zwei Jahren sehen, dass wir es richtig gemacht haben, kommen sie vielleicht dahin, wo wir jetzt sind. Aber wir sind dann wir schon wieder weiter. Zum Beispiel sagt Bjarne, dass er uns Werte vermitteln will, die ein Leben lang gültig sind, nicht nur zwei, drei Jahre der Karriere: etwa Loyalität und Respekt. Alle gemeinsam versuchen wir, diesen Anspruch zu erfüllen.

SZ: Klingt ja wie bei den Pfadfindern.

Voigt: Quatsch. Aber jeder von uns ist bereit, dem anderen entgegen zu kommen. Man bringt sich in Gesprächen ein, erkundigt sich nach der Familie des Teamkollegen. Man gibt ein positives Signal nach außen und erhält solch eins zurück. So kann man sich gegenseitig aufbauen.

SZ: Riis, Tour-Sieger 1996, wurde mit Doping in Verbindung gebracht. Wie gehen Sie mit solchen Gerüchten um?

Voigt: Ich beurteile ihn nach dem, was jetzt ist. Mit den Verdächtigungen müssen wir leben. Wir wissen, was wir tun, und haben nichts zu verbergen. Bjarne hat ein Statement dazu abgegeben: Kommt her, Leute, ihr könnt gerne gucken, wie wir trainieren. Dann seht ihr, warum wir so gut sind. Denn wir trainieren viel, hart und sehr wissenschaftlich fundiert. Da ist kein großes Geheimnis dahinter. Unser Erfolg basiert auf harter Arbeit und gutem Teamgeist.

Interview: Andreas Burkert

© Süddeutsche Zeitung vom 21.7.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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