Interview:"Meine Besessenheit hat mich dahin gebracht, wo ich bin"

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Nationaltorwart Oliver Kahn über die Schwierigkeit, ein Buch zu schreiben, den Zynismus des Erfolgs und Dagobert Duck.

Von Klaus Hoeltzenbein und Philipp Selldorf

Am Mittwoch stellt Oliver Kahn, 34, im Münchner Literaturhaus sein Buch "Nummer eins" vor. Moderiert wird die Präsentation von der Schauspielerin Senta Berger, über die Kahn sagt: "Ich finde sie einfach fantastisch."

"Einiges in meinem Leben wird sich radikal ändern": Oliver Kahn. (Foto: Foto: ddp)

Doch die Vorfreude auf das kleine Fest um das selbst verfasste Werk ist etwas getrübt.

Seit seinem Fehler im Spiel gegen Bremen am Samstag (1:3) erwägt der Torwart, das Amt als Kapitän des FC Bayern und in der Nationalmannschaft aufzugeben. Er werde einiges in seinem Leben "radikal ändern", kündigte er an.

SZ: Herr Kahn, der Dichter Gotthold Ephraim Lessing lehrte: "Schreibe wie du redest, so schreibst Du schön." Welchem Prozess sind Sie gefolgt, als Sie "Nummer eins" geschrieben haben?

Kahn: Also, dieses Buch ist zu 100 Prozent authentisch, es gibt keinen Ghostwriter, und der Prozess war relativ einfach: Ich habe zu vielen Themen meine Gedanken auf Band gesprochen, diese Bänder wurden eins zu eins aufgeschrieben, und das habe ich als riesiges Manuskript bekommen. All diese Din-A-4-Seiten habe ich dann am Ende mit einer Lektorin des Verlags so lange überarbeitet und gegliedert, bis ich eine Form hatte, die für mich authentisch war.

SZ: Schriftsteller empfinden das Bücherschreiben oft als schmerzhaft.

Kahn: Das ist schon eine Wahnsinnsarbeit. Da gibt es Passagen, über denen sitzt man stundenlang und fragt sich: Wie formulierst du das aus, wie bringst du das in Form, wie machst du dich richtig verständlich? Du kommst einfach nicht drauf und wirst bald verrückt.

SZ: Wo haben Sie geschrieben?

Kahn: Überall, wo ich gerade mal Zeit hatte. Wir haben ja als Fußballprofis ziemlich viel Zeit vor den Spielen, da sitzt man dann im Hotel und ist froh über eine gute Beschäftigung.

SZ: In dem Buch steht der Satz: "Das Warten in einem abgesteckten Feld, also im Strafraum, ist für einen ungeduldigen Menschen wie mich etwas Furchtbares." Dem Dichter geht es ja nicht besser, wenn er in seiner Kemenate über das nächste Kapitel sinniert.

Kahn: Das war nicht das Problem. Aber wenn man da sitzt, vielleicht mit einem Glas Wein, und schreibt einfach ein paar Gedanken auf - es ist ja keine Autobiografie, es sind Reflexionen -, dann kommt man auf einmal ins Grübeln.Und beim Überarbeiten der Manuskripte ist mir aufgefallen: Hoppla, da gehst du zu weit, und da bist du arg abgedriftet, und da wird's schon sehr philosophisch.

SZ: So kennt man das aber nicht von anderen Torwartbüchern. Bei Uli Stein und Toni Schumacher, da hat's geknallt. Bei Ihnen nicht.

Kahn: Das ist auch etwas, was mir fremd ist. Ich hatte viele Angebote, ein Buch zu machen und wurde gedrängt, etwas Spektakuläres zu machen. Will ich nicht. Warum? Ich habe keine Lust, auf irgendjemanden loszugehen.

Ich bin nicht der Mensch, der sich hinstellt und, aus Rachegefühlen heraus, jemandem eins überbrät. Das passt nicht zu mir. Ich wollte nur ein paar Erfahrungen niederschreiben, und mir war wichtig, dass die Menschen vielleicht sehen: ,Aha, der Oliver Kahn hat noch ein paar andere Facetten'.Anstatt immer nur den Kahn, der mit offenem Mund im Tor steht, brüllt und seine Kollegen würgt.

SZ: Das beginnt im Buch mit der Erkenntnis, dass Sie seit zweieinhalb Jahrzehnten auf dem falschen Platz stehen, nachdem Ihnen die Großeltern eine Sepp-Maier-Torwartmontur geschenkt hatten - weil Sie für das Torwartdasein viel zu viel Energie haben.

Kahn: Die Torwartposition ist vielleicht für einen Mensch mit so viel Energie eine schwierige Position, weil sie es mir nicht ermöglicht, all die Frustrationen und Aggressionen, die im Sport entstehen, rauszurennen, rauszugrätschen. Vielleicht gerate ich deswegen immer wieder in diese typischen Oliver-Kahn-Situationen.

SZ: Sie vergleichen den Strafraum mit einer "Normzelle im Gefängnis".

Kahn: Es geht ja um diese Art von Unfreiheit. Der Torhüter bewegt sich im begrenzten Raum, in Breite und Länge, alles hat eine Norm. Klar, dass sich manche Torhüter widersetzen - ich erinnere an Radenkovic, der sich wohl dachte: "Das stinkt mir, jetzt brech' ich aus."

SZ: Sie haben's auch mal versucht, in Rostock vor ein paar Jahren.

Kahn: Ist aber kläglich gescheitert.

SZ: Sie haben damals den Ball nach einer Ecke ins gegnerische Tor geboxt.

Kahn: Und viele Leute hatten Spaß - aber dargestellt wurde es, als sei ich verrückt geworden.

SZ: Haben Sie viele solcher Szenen noch einmal erlebt, als Sie die Gedanken für Ihr Buch gesammelt haben?

Kahn: Man stößt auf lauter Dinge, über die man Jahre später ganz anders denkt. Zum Beispiel die Geschichte mit Heiko Herrlich in Dortmund, dieser Biss. Heute weiß ich: Da habe ich eine Grenze überschritten und hatte Glück, dass nichts Ernsthaftes passiert ist. Früher habe ich immer gesagt: Ich hab' alles unter Kontrolle gehabt, wollte nur meine Mitspieler mitreißen...

SZ: Tatsächlich gibt es einige selbstkritische Momente.

Kahn: Selbstkritisch? Weiß ich nicht. Es ist wahrscheinlich ehrlich.

SZ: Zum Beispiel beim Thema Besessenheit. Da heißt es, Seite 87: "Die Gefahr ist, dass Besessenheit einen Prozess der Selbstzerstörung einleitet. Oft ist er ziemlich weit fortgeschritten, bis man ihn wahrnimmt..."

Kahn: Das ist ein kritisches Auseinandersetzen mit meinen Mechanismen. Doch es soll keiner glauben, dass ich mein Spiel ändere - das werde ich immer so spielen. Meine Besessenheit hat mich doch dahin gebracht, wo ich bin. Vielleicht gibt es ein paar Nuancen, die ich ändern sollte. Wenn deine Besessenheit so weit führt, dass es dir nicht gut geht, dann muss man aufpassen.

SZ: Neulich beim Spiel in Köln sahen Sie nicht sehr glücklich aus. Da haben Sie in einem Wutanfall den Ball auf die Tribüne gehauen und sind vom Publikum ausgebuht worden.

Kahn: Köln ist einfach zu erklären. Vorher war das Spiel in Rumänien. Ich hatte soooo einen Hals, eine unglaubliche Aggression - zwei Tage lang. Du fährst da hin, kriegst vier Tore in einer Halbzeit, kannst nichts machen, wirst als Bratwurst dargestellt, es ist, als ob dir einer auf den Kopf haut mit einer Riesenkeule.

So bin ich in Köln auf den Platz gegangen, und dann bekomme ich dieses Scheißtor zum 0:1, als der Ball abgefälscht ins Tor eiert - da habe ich halt dagegengehalten. Ich habe nun mal meine Art, die Torwartposition offensiv zu interpretieren - ich hab' mich nie als den ruhenden Pol gesehen.

SZ: Ihre Eigenheit, den eigenen Willen durchzubringen, wird im Buch durch ein Kindheitserlebnis angesprochen. Demnach wollten Sie, wenn Sie mit den Eltern vor dem Fernseher saßen, "grundsätzlich das Programm anschauen, das die anderen nicht sehen wollten."

Kahn: Aber ich war leicht zu manipulieren. Immer wenn meine Eltern ein Programm eingeschaltet haben, wollte ich das andere sehen. Das haben sie natürlich gecheckt und haben immer das eingeschaltet, was sie nicht sehen wollten.

SZ: Es fällt auf, dass Sie sich mit Äußerungen über andere sehr zurückhalten - obwohl sie aus Ihren Begegnungen mit den Berühmtheiten des Fußballs Vieles mitteilen könnten.

Kahn: Ich weiß ja auch nicht, ob diese Personen das möchten. Ich bin da auch ein wenig sensibilisiert. Es gibt doch jetzt dieses Buch über Dieter Bohlen von diesem anderen Produzenten...

SZ: Frank Farian.

Kahn: ... dieser Herr Farian geht in einer Weise auf Herrn Bohlen los - sowas geht für mich einfach zu weit. So was fällt alles auf einen selbst zurück.

SZ: Wir erinnern an Stefan Effenbergs Biografie, in der er Lothar Matthäus vorwirft, sich "verpisst" zu haben beim Europacupfinale 99. Toni Schumacher berichtete, Paul Breitner habe "wie ein Kosak" gesoffen im Trainingslager.

Kahn: Tschuldigung, aber über sowas wollte ich nicht schreiben. Eigentlich ist es feige und auch eine Art von Verrat, zu sagen: Der hat damals... Dafür muss er mir gegenübersitzen. Dann sag' ich: Du hast damals... Ich will ja auch versuchen, mit diesem Buch jungen Menschen etwas mitzugeben, irgendwas Positives. Und wenn ich nun sage: Person X war betrunken, bei dem und dem Anlass - wem gebe ich damit was?

SZ: In Ihrer Schilderung vom verlorenen Champions-League-Finale 99 schreiben Sie von der "großen Leere", die Sie danach befallen hat, und dass dies eine Schlüsselsituation fürs ganze Leben war.

Kahn: Auf einmal war da ein ganz großer Traum, eine totale Fixierung zerschlagen, und daraus habe ich viel gelernt. Damals empfand ich es so, dass das allein glücklich und selig machende dieser Pokal ist, in meiner Besessenheit habe ich gar nichts anderes mehr gesehen. Da war für mich Endstation, psychisch und physisch.

SZ: Ihre Situation, schreiben Sie, war die eines "Workaholic und Süchtigen".

Kahn: Da können mich viele sicher gut verstehen, Chefs in vielen Berufen, in Banken, Agenturen etcetera. Die arbeiten auch bis zum Geht-nicht-mehr. Aber sie haben Mechanismen, um runterzufahren - und die hatte ich damals nicht mehr. Aber kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit dem Wort Burn-Out-Syndrom! Das ist ein Modebegriff, der keine Differenzierung zulässt.

SZ: Nach 1999 machen Sie sich aber neue Gedanken über Ihren Beruf. Sie erwähnen den Zynismus der Vereinsphilosophie des FC Bayern und kommen zu dem Schluss: Totales Erfolgsdenken führt zu Verrohung und Abstumpfung.

Kahn: Es geht nicht darum, dass es falsch ist, die Nummer eins sein zu wollen. Sondern darum, dass es eine fatale Einstellung ist, wenn man glaubt: Wenn ich oben bin, ist alles, was ich gemacht habe, richtig. Ich habe ja auch gemerkt, wie die Menschen um mich herum unter mir gelitten haben, weil das Hetzen zum Erfolg einfach zu extrem wurde. Du nimmst ja nichts mehr wahr, weil du so auf dich fixiert bist.

SZ: Und das ist heute anders?

Kahn: Ja. Der Blickwinkel ist weiter. Es ist wie ein Tunnel, durch den ich laufe, und der sich immer mehr öffnet. Das ist eigentlich eine schöne Entwicklung.

SZ: Und wenn Ihnen solche Fehler unterlaufen wie am Samstag gegen Bremen oder im Europacup gegen Real Madrid, dann leiden Sie heute weniger als früher?

Kahn: Dann bin ich natürlich schon schwer niedergeschlagen und mach' mir Gedanken, es tut weh. Aber ich kann mich ja nicht verkriechen, wie ich's früher gemacht hab'. Früher hätte ich mich nach solchen Fehlern eingeschlossen. Heute gehe ich in so einer Situation überall dorthin, wo Menschen sind. Dann hörst du, was die Leute reden, es ist entwaffnend und du zergrübelst dich nicht.

SZ: Obwohl Sie es jetzt, nach dem Erlebnis im Bremen-Spiel, vorgezogen haben, die Öffentlichkeit zu meiden. Auf den Samstag passt, was Sie über einen anderen Fehler geschrieben haben, beim 1:1 gegen Real Madrid: "Keine Pfiffe, keine Jubelschreie, gespenstische Stille, noch nie in meinem Leben habe ich die Fassungslosigkeit so gespürt."

Kahn: Da stand für die Zuschauer in München wieder die Frage im Raum: Was haben wir hier gesehen? Ist das eine optische Täuschung?

SZ: In dem Buch gibt es eine Kanzlerparallele. Sie handelt von Ihrem Wutausbruch, während die Deutschen das WM-Finale 1982 verloren. "Ich schwor mir in diesem Augenblick, dass ich das alles einmal selbst erleben wollte", schreiben Sie. Das erinnert uns an Gerhard Schröder, wie er in Bonn am Gitter vom Kanzleramt rüttelt und ruft: "Ich will hier rein."

Kahn: Ich kann mich noch sowas von erinnern. Es war die WM 1982, das Endspiel zwischen Deutschland und Italien, und ich war im Urlaub in Italien, in Rimini auch noch. Wir haben das Spiel in einem Lokal geschaut, und dann siehst du vor dir die Italiener aufspringen bei jedem Tor, es steht 0:3, bis der Breitner noch ein Tor schießt. Ich bin dann schnell heimgerannt, ich konnte den Jubel der Italiener nicht ertragen und dann habe ich eben diesen Blumenkübel genommen und auf den Asphalt geschmissen - aber mit Schröder will ich mich jetzt nicht vergleichen. Für mich entstand da der Antrieb zu sagen: So möchte ich die Leute auch mal bewegen.

SZ: Noch ein Kindheitserlebnis und ein ungewöhnliches Bekenntnis: "Geld interessiert mich seit meiner Kindheit, als Junge träumte ich von Dagobert Duck, ich hatte sogar einen Spazierstock." Was war das für ein Stock?

Kahn: Komisch. Alle fragen mich danach. Diese Geschichte ist so banal, eigentlich wollte ich sie gar nicht drin haben. Ich war sechs Jahre alt, und fand einfach die Figur Dagobert Duck faszinierend, und dann bin ich halt so weit gegangen, dass ich meiner Mutter gesagt habe, dass ich auch mal die Badewanne voller Geld haben möchte. Sie hat mir erklärt, dass das keine so gute Idee ist...

SZ: So materiell scheinen Sie aber gar nicht veranlagt zu sein. Über die gewonnenen Pokale schreiben Sie, dass sie Ihnen zwei Minuten später nur noch "als kaltes Metall" erschienen seien.

Kahn: Damit will ich nur sagen: Das Ziel erreicht zu haben ist doch nur eine kurze Freude. Was du alles erlebst an fantastischen und schlimmen Momenten, bis du das Ziel erreicht hast, du freust Dich riesig, hebst den Pokal hoch und auf einmal denkst du: Und jetzt? Aber vielleicht finde ich in einigen Jahren heraus: Stimmt doch gar nicht. Das Ziel zu erreichen bedeutet Frieden und Glück.

SZ: Sie haben ein Sportbuch geschrieben. Privates kommt kaum vor, außer einem Verweis auf Zuhause: "Früher habe ich Tag und Nacht an Fußball gedacht. Sogar in meinen Träumen verfolgten mich die Bälle. Für eine Beziehung oder eine Familie ist das eine Katastrophe."

Kahn: Weglassen konnte ich's leider nicht. Hätte ich's getan, hätte man mir das negativ ausgelegt. Und klar, irgendwann ist das einer Frau zu wenig, wenn ihr Mann nur auf den Beruf fixiert ist. Wo sind die anderen Dinge des Lebens?

© SZ vom 12.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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