Interview:"Im Jura war alles ruhig"

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Kaum eine andere Person des Sports hat 2004 mehr negative Schlagzeilen geerntet als er: Der zurückgetretene Schweizer Schiedsrichter Urs Meier über Ballack, Zidane und seinen Streit mit den Engländern.

Interview: René Hofmann

"Urs Hole" ( Daily Star), "Schiedsrichter-Halbidiot" ( Sun), " Krämer aus der Schweiz" (The Guardian) - kaum eine andere Person des Sports hat 2004 mehr negative Schlagzeilen geerntet als Urs Meier.

Der Engländer Phil Neville ist mit Meiers Entscheidung nicht einverstanden. Nach dem EM-Spiel folgte eine einzigartige Hetzkampagne gegen den Schiedsrichter (Foto: Foto: dpa)

Bei der Fußball-EM in Portugal leitete der Schweizer das Viertelfinale zwischen den Gastgebern und England. In der 89. Minute erkannte er einen Treffer des Briten Sol Campbell nicht an, weil dessen Mitspieler John Terry den Torwart behindert hatte. Das Spiel ging in die Verlängerung.

Im Elfmeterschießen schieden die Engländer aus - für die Zeitungen war Meier schuld. British European erwog, Flüge in die Schweiz einzustellen und rief seine Kunden auf, Meier per E-Mail zu beschimpfen.

Im Januar wird Meier 46, überschreitet damit die Altersgrenze für Schiedsrichter und darf international nicht mehr pfeifen.

SZ: Herr Meier, am 11. Dezember haben Sie ihr letztes Spiel geleitet: Basel gegen Thun. Wie ging es aus?

Urs Meier:3:3. Es war ein sehr schönes Spiel, und die Schiedsrichter-Leistung war kein Thema. Das war wichtig.

SZ: Wie haben Sie das Spiel erlebt?

Meier: Mit einem komischen Gefühl. Ich habe gewusst: Das ist das letzte Mal. Ich habe versucht, die Atmosphäre aufzusaugen, alles zu genießen, aber das war schwierig. Ich habe gleich gemerkt: Irgendwie komme ich nicht richtig rein. Alles war so weit weg. Auch die 23.000 Zuschauer. So ein Gefühl hatte ich noch nie. Im Spiel war ich fast wie in Trance.

SZ: Was waren die Höhepunkte Ihrer zehn Jahre als Fifa-Schiedsrichter?

Meier: Die zwei Welt- und die zwei Europameisterschaften sowie das Champions-League-Finale 2002: das 2:1 von Real Madrid gegen Leverkusen in Glasgow. Ab 1997 habe ich jedes Jahr mindestens das Halbfinale in der Champions League gepfiffen. Tolle Spiele.

SZ: Welche besondere Erinnerungen haben Sie daran?

Meier: Ich habe zweimal im Halbfinale einen Spieler verwarnt, der daraufhin im Finale gesperrt war. 2002 bei der WM Michael Ballack gegen Südkorea, ein Jahr später Pavel Nedved von Juventus Turin in der Champions League gegen Real Madrid. Das waren emotionale Momente. Wie auch manche Tore. Bei dem Volleyschuss von Zinedine Zidane zum 2:1 für Real im Finale gegen Leverkusen stand ich nur fünf Meter entfernt. Ich habe gesehen, wie er den Ball annimmt und dieses Traumtor erzielt. Gewaltig. Mit Zinedine Zidane hatte ich noch einen schönen Moment: beim Eröffnungsspiel für das Stade de France, als ihm zum 1:0 gegen Spanien der erste Treffer in dem Stadion gelang. Nach dem Abpfiff kam er in die Umkleide, brachte mir sein Trikot und bedankte sich für meine Leistung.

SZ: Was bleibt an Negativem?

Meier: Die zwei Kampagnen gegen mich.

SZ: Zwei?

Meier: Im August 2003 pfiff ich das EM-Qualifikationsspiel Dänemark gegen Rumänien. Mit einem Sieg hätten sich die Rumänen direkt qualifiziert. Bis 94 Minuten und 36 Sekunden führten sie 2:1, dann fiel der Ausgleich, mit dem in der Gruppe alles durcheinander geriet. Plötzlich waren die Rumänen draußen, und die Zeitungen hetzten gegen mich.

SZ: Woran erinnern Sie sich als erstes, wenn Sie an die EM 2004 denken?

Meier: Für mich ist die EM zweigeteilt. Auf der einen Seite steht das sportliche. Das war toll. Auf der anderen Seite steht die Pressekampagne mit all ihren Nebenerscheinungen, die nach dem Ausscheiden der Engländer einsetzte.

SZ: Was hat Sie geschockt?

Meier: Die Unwahrheiten, die publiziert wurden. Ein Beispiel: Eine Boulevardzeitung brachte eine zweiseitige Story, in der meine frühere Frau zitiert wird: "Er hat England betrogen, wie er mich betrogen hat." Das hat sie nie gesagt.

SZ: Wann war Ihnen klar, welche Dimension alles annehmen würde?

Meier: Als ich am Morgen nach dem Spiel ins Internet gegangen bin. Da hatte ich schon 16000 E-Mails erhalten. Nachdem ich die erste gelesen hatte, habe ich geahnt: Jetzt fängt das wieder an. Als ich dann noch den Titel der Sun sah - "Cheated by an Urs Hole"-, war mir klar: Das wird eine Schlammschlacht.

SZ: Wie war das, als Sie am Abend das Stadion verließen?

Meier: Nach dem Spiel kam Sven-Goran Eriksson, der Trainer der Engländer, zu mir und sagte: Danke für die Leistung, aber das Tor hätte zählen müssen. Kaum hatte er die Schiedsrichterkabine verlassen, riefen Freunde an und gratulierten mir: Wir haben alles im TV gesehen, die Entscheidung war absolut korrekt, weil der Torhüter behindert wurde. Die Engländer im Stadion haben das ja auch akzeptiert. In der Nacht gab es eine riesige Party - mit Portugiesen und Engländern. Erst mit den Zeitungen kam am nächsten Morgen alles ins Rollen.

SZ: Was geschah?

Meier: Telefonterror. Die Fax- und E-Mail-Flut in meinem Geschäft für Haushaltswaren in Würenlos haben wir relativ schnell gestoppt. Mit den Anrufen war das nicht so einfach. Das Spiel war am Donnerstag, am Montag gingen immer noch mehr als 5000 Schmäh-Anrufe ein. Nach Hinweisen der Polizei hat die Gemeinde eine Woche lang zwei bewaffnete Sicherheitsleute vor dem Geschäft positioniert. Als ich am Dienstag nach Hause kam, wurde ich von der Polizei abgeholt. Ich bin dann direkt untergetaucht. Zunächst im Schweizer Jura, dann in Lenzerheide.

SZ: Reporter der Sun rollten eine gewaltige Union Flag vor ihrem Haus aus. Meier: Ursprünglich wollten sie die Flagge aufs Dach legen. Jemand hat mir erzählt, dass die Briten im Zweiten Weltkrieg so ihre Bombenziele markierten. Das waren extreme Auswüchse. Ein Abgeordneter regte an, man solle den Kanton Aargau bombardieren. Unglaublich.

SZ: Gab es direkte Morddrohungen?

Meier: Zuhauf.

SZ: Wie sitzt man in so einem Moment im Schweizer Jura?

Meier: Eigentlich ganz gelassen. Ich war bei der Mutter meiner Freundin. Es war wunderschönes Wetter. Ich habe die Zeit genossen. Sie war erholsam.

SZ: Gab es auch Aktionen, über die Sie schmunzeln konnten? Meier: Den Gratis-Sehtest für alle Schweizer und den Boykott-Aufruf gegen Schweizer Käse, Schokolade und Kuckucksuhren - die kommen gar nicht von uns, sondern aus Deutschland.

SZ: Endete der Spuk mit der EM?

Meier: Mehr oder weniger. Gelegentlich hört immer mal wieder einer meinen Namen und denkt, dem habe ich auch schon lange nicht mehr geschrieben. Und eine Strafanzeige läuft noch, gegen einen Hacker, der meine Homepage umgeschrieben hat. Dort stand plötzlich, dass ich mich beim englischen Volk entschuldige. Ich hätte von hohen Funktionären der Uefa Geld erhalten, um Portugal weiterkommen zu lassen.

SZ: Haben Sie eine Erklärung gefunden dafür, wie es zu all dem kommen konnte?

Meier: Nicht unbedingt, aber ich habe begriffen, wie die britische Boulevardpresse funktioniert. Beckhams verschossener Elfmeter taugte nach dem Ausscheiden nicht zur großen Geschichte. Die gab es schon einmal. Deshalb musste ich als Sündenbock herhalten, was auch sehr gut ging, weil selbst der Premierminister kund tat, dass es eine Fehlentscheidung war, das Tor zu annullieren.

SZ: Die Schiedsrichter-Kommission der Uefa gab Ihnen recht. Gab es von britischer Seite ein versöhnliches Wort?

Meier: Nein. Weder vom Fußballverband noch von einem Spieler. Aber einige Zeitungen haben mich angerufen und sich klar von der Kampagne distanziert.

SZ: Der Daily Mirror hat damals geschrieben, Sie werden auf der Insel fortan "immer als Ungeheuer betrachtet werden". Waren Sie schon wieder dort?

Meier: Nein. Irgendwann wird das auf mich zukommen, und ich habe tatsächlich, naja, Angst wäre das falsche Wort, aber Respekt habe ich schon vor diesem Moment. Was passiert, wenn mich im Pub jemand erkennt? Mal schauen.

SZ: Sie haben Ihre Karriere aufgrund des Alterslimits beendet. Sie hätten gerne noch weiter gepfiffen?

Meier: International ist mit 45 Schluss. Ich hätte in der Schweiz noch ein halbes Jahr in der ersten Liga pfeifen können. Aber das wollte ich nicht.

SZ: Warum? Meier: Für das Fifa-Zeichen habe ich 17 Jahre lang gearbeitet. Ich habe immer gesagt: So bald ich es nicht mehr tragen darf, höre ich auf. Eigentlich wollte ich direkt nach der EM zurücktreten, aber nach dem, was passiert ist, habe ich gesagt: so nicht.

© SZ vom 24.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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