Interview:"Das kalkulierte Wagnis, der geniale Blitz"

Lesezeit: 15 min

Schriftsteller und Fußballfan Günter Grass über die Identifikation der Deutschen mit ihrer Nationalmannschaft, die neue Patriotismus-Debatte und die Frage, was Kanzlerin Angela Merkel von Jürgen Klinsmann lernen kann.

Gespräch: Ludger Schulze, Kurt Röttgen

SZ: Herr Grass, woher kommt die Nähe zum Fußball?

Günter Grass: Es ist ein Wunder, ein Wunder und eine Leistung von Jürgen Klinsmann, dass wir's bis ins Halbfinale geschafft haben. (Foto: Foto: dpa)

Günter Grass: Durch meinen jüngsten Sohn. Wir zogen aufs Land, und das Erste, was er tat, war, in den Fußballklub von Wewelsfleth einzutreten. Das ist ein Dorf in der Wilstermarsch, in der Nähe von Glückstadt an der Elbe. Vielleicht auch, um als Berliner Stadtkind Eindruck zu machen, hat er mich überredet, einmal in der Altherrenmannschaft mitzuwirken, die gegen die Werftmannschaft spielte. In Wewelsfleth gibt es ein Schiffswerk, ein kleines. Er hat alles besorgt: Fußballschuhe, Kluft. Ich war völlig untrainiert, Linksaußen der Mannschaft...

SZ: ...zumindest die richtige Position...

Grass: ...ja, das passte. Und dann hat mich der fürchterliche Ehrgeiz gepackt. Ich wollte eigentlich nur eine Halbzeit mitspielen, habe dann aber bis in die zweite Halbzeit hinein ausgehalten und hinterher vier Tage lang mit geschwollenem Knie zugebracht; das wollte sich gar nicht beruhigen.

SZ: Wie alt waren Sie?

Grass: Da war ich in den Fünfzigern. Alle, die davon hörten, haben hinterher mit dem Kopf geschüttelt. Hätte schlimmere Folgen haben können. Aber mein Sohn war sehr stolz und hat behauptet, ich hätte von links außen ein paar ganz gute Flanken gegeben. Wie heute Lahm.

SZ: Deutschland hatte in den vergangenen Wochen den Traum, Fußball-Weltmeister zu werden. Haben Sie mitgeträumt?

Grass: Ja. Aber immer mit dem Hintergedanken, schon in der Vorrunde: Hoffentlich scheiden wir nicht zu früh aus und schaffen nur das Achtelfinale. Es ist ein Wunder, ein Wunder und eine Leistung von Jürgen Klinsmann, dass wir's bis ins Halbfinale geschafft haben. Damit sollten wir mehr als zufrieden sein. Angenommen, es wäre beim Spiel am vergangenen Dienstag wieder zum Elfmeterschießen gekommen - darin sind wir ja Weltmeister - und wir hätten gewonnen, wäre das ein ungerechter Sieg gewesen. Die Italiener waren eine erkennbare Spur besser. Doch unsere Spieler haben eine Menge geleistet. Ich hatte auch das Gefühl, hinterher im Gespräch mit Leuten, dass viele so dachten: Wir haben es weit geschafft.

SZ: Eine erstaunliche Entwicklung, wenn man bedenkt, wo die Nationalmannschaft vor zwei Jahren stand.

Grass: Und gegen welche Widerstände Klinsmann, auch in der Öffentlichkeit, sich durchgesetzt hat. Was ich an Klinsmann bewundere, ist - außer seiner sportlichen Leistung und seiner Leistung als Trainer, die ja beachtlich ist -, dass er, was wenige in diesem Sportgeschäft tun, sich der Bild-Zeitung verweigert hat. Man hat ihn ja auch bestraft. Die übelsten Angriffe kamen von dort und viele haben ihnen nachgeplappert. Es gab auch entsprechende Zulieferer, die der ganzen Klinsmann-Sache misstrauten. Und gegen diese Widerstände hat er ausgezeichnete Arbeit geleistet. Das muss man anerkennen.

SZ: Aber er hat sich auch kurz vor der Weltmeisterschaft mit Springer-Vorstand Mathias Döpfner und Chefredakteuren des Verlages in der Toskana getroffen. Dabei wurde eine Art Interimsfrieden geschlossen, der bis zum Ende der Weltmeisterschaft galt.

Grass: Das spricht für seine Klugheit. Ich habe kürzlich ebenfalls ein Gespräch mit Döpfner geführt. Er ist, nehme ich mal an, ein Mann, der etwas im Springer-Konzern ändern will. Aber selbst seine Macht kennt Grenzen, was die Bild-Zeitung betrifft.

SZ: Wie viele Spiele haben Sie im Stadion miterlebt?

Grass: Zwei in Berlin, zwei in Dortmund, eins in München, das war gegen Schweden, und mit meiner Frau war ich in Hannover und habe dort Frankreich gegen Spanien gesehen. Und dann natürlich zwischendurch Spiele im Fernsehen. Ich habe das mit Interesse verfolgt und zum Beispiel bedauert, dass die sehr schön spielenden afrikanischen Mannschaften ausgeschieden sind und dass das Ganze zum Schluss wieder eine europäische Angelegenheit wurde.

SZ: Was hat Sie an der WM besonders fasziniert?

Grass: In Vorbereitung der Weltmeisterschaft hat man viel geunkt und Sicherheitsbedenken gehabt. Wir Deutschen sind ja Weltmeister im Bedenken, das ist ein unbestrittener Titel, den wir haben. Und dann lief alles ganz anders. Sehr heiter, sehr locker. Die Deutschen waren sogar bereit, auf eine fröhliche Art und Weise Flagge zu zeigen und haben gleichzeitig aus dieser Flagge ein vielfach verwendbares Bekleidungsstück gemacht: vom Wickelrock bis sonstwohin. Füllige ältere Damen hatten eine neue Schminkmethode, sie haben sich schwarz-rot-gold auf die Wangen gemalt, manche hatten Irokesen-Frisuren in den Landesfarben, ein Baby sogar den Schnuller. Diese völlig unorganisierte spontane Art war überzeugend. Ich glaube, auch für viele Ausländer, die es miterlebt haben. Und ich hoffe, dass sich die Politiker im Nachhinein zurückhalten, nicht auf dieser Welle mitreiten und das Ganze zu etwas stilisieren, was es nicht sein kann und nicht sein wollte.

SZ: Deutschland wirkt bei dieser Weltmeisterschaft jung wie nie zuvor.

Grass: Es war auch die Reaktion des Publikums in den Stadien wie außerhalb der Stadien auf eine junge Mannschaft, die auf eine, für deutsche Verhältnisse, verblüffend neue Art gespielt hat: offensiv eingestellt, in einem Mannschaftsverhältnis, wo man bereit war, Fehler sofort auszugleichen; jeder sprang für den anderen ein. Ich glaube, das hat sich auch auf das Publikum übertragen und hat dazu beigetragen, dass alles so heiter verlief.

SZ: Wie darf man sich den Stadionbesucher Grass vorstellen? Werden Sie erkannt, angesprochen?

Grass: Ja, sicher. Ich habe im Laufe meines Lebens gelernt, dass sich dagegen zu wehren viel anstrengender ist, als dem nachzugeben. Es ist ein bisschen umständlicher geworden, weil sich die Wünsche früher auf ein Autogramm beschränkten. Jetzt hat jeder sein Handy mit Fotografiermöglichkeit und will noch ein Einzelfoto und ein Doppelfoto und noch eins in Gruppe haben. Das ist manchmal umständlich, aber auch das war in Ordnung, weil es in einer angenehmen, nicht aufdringlichen, fast schüchternen Weise vorgetragen wurde.

SZ: Schimpfen Sie während des Spiels auf den Schiedsrichter?

Grass: Im Stadion erlebt man sich ja doch in einer Form, die einem so nicht bewusst wird. Zum Beispiel habe ich die Nationalhymne mitgesungen. Zum einen, weil ich diese Strophe mag. Die hat etwas Altmodisch-Anrührendes, führt uns auf den Anlass ihres Entstehens zurück: Hoffmann von Fallersleben hat den Text ja aus der Opposition heraus geschrieben. Deutschland war damals ein Staat, der separatistisch auseinander gefallen war. Er hat die Einheit Deutschlands angestrebt, aber mit Freiheit und Recht. Dienstag habe ich gelegentlich auf den Schiedsrichter geschimpft; auch laut, gemeinsam mit anderen. Dieses Mitmachen im Stadion ist ja auch ein Stück Ventil.

SZ: Klinsmann hat Begeisterung ausgelöst. Mit ihm kam ein Stück kalifornisches Lebensgefühl, kamen Optimismus, Fitness und Spaß nach Deutschland. Wie haben Sie ihn wahrgenommen?

Grass: Im Stadion ist er sehr weit entrückt. Ich habe ihn im Fernsehen wahrgenommen. Da ist er als jemand zu sehen, der nicht ruhig auf der Bank sitzt, der mitleidet und sich mitfreut, wenn was gelingt, der eine glückliche Hand hat. Ich will das nicht auf Kalifornien zurückführen. Das ist nur sein Wohnsitz. Das mag ihm familiär etwas bringen, was ich nicht beurteilen kann. Aber dass er bei einigen Spielen im richtigen Moment eingewechselt hat, Odonkor und Neuville zum Beispiel, das sind schon geniale Momente, die auf den Trainer zurückzuführen sind. Meiner Meinung nach hätte er Odonkor gegen Italien etwas früher einwechseln sollen, denn sowie er ins Spiel kam, kamen verwertbare Flanken. Odonkor ist ein Talent, das Klinsmann entdeckt hat. Alle haben den Kopf geschüttelt, warum Odonkor?

SZ: Vor ein paar Monaten wurde noch Klinsmanns Entlassung gefordert.

Grass: Die Haltung, wie er dem Druck der Öffentlichkeit widerstanden hat, finde ich bewundernswert. Die Zähigkeit, mit der er Ziele verfolgt hat. Das hat nichts mit Kalifornien zu tun, sondern mit seiner planenden Art. Ich weiß, dass er, bevor er als Spieler nach Italien ging, Italienisch gelernt hat, dass er sich auf ein Land vorbereitet; dass er ein neugieriger Mensch ist. Wenn ich schon da hinkomme, dann will ich wissen, wer ist Michelangelo, wer ist Leonardo, wer Rafael? So hat er gedacht, und das ist typisch für ihn.

SZ: Die Tageszeitung Die Welt hat Angela Merkel empfohlen, von Klinsmann zu lernen.

Grass: Dann muss sie sich, so wie Klinsmann sich mit der Öffentlichkeit angelegt hat, bei der Gestaltung einer Gesundheitsreform zum Beispiel mit der Pharmaindustrie anlegen. Das tut sie nicht. Und so sieht dieses Reförmchen aus. Das Gleiche kann man von der Föderalismusreform sagen. Das ist eine Entmachtung des Staates zugunsten der Länder; ein Rückfall des von mir geschätzten Föderalismus in den Separatismus. Wenn von Klinsmann lernen, dann diese Art von Ausreizen der eigenen Unabhängigkeit. Sie ist nun Kanzlerin und hat auch einen handlungswilligen Koalitionspartner in der Sache, gerade was die Gesundheitsreform betrifft. Und da hat sie eben der Fraktion, auch in der eigenen Partei, die Lobby-hörig ist, und insgesamt der Lobby nachgegeben. Also, wenn sie von Klinsmann lernen wollte, müsste sie diese Konsequenz des Widerständigen übernehmen. Auch diese Art von Zähigkeit.

SZ: Kann ein Fußballcoach einer Nation tatsächlich als Vorbild für Reformfähigkeit dienen? Oder ist er nicht eher von den Medien in diese Rolle hineingeschrieben worden?

Grass: Ich meine, so etwas ist immer ein bisschen an den Haaren herbeigezogen. Aber in der allgemeinen Ratlosigkeit, in der wir uns befinden, und dieser Bedenkenträgerei, in die wir auch sicher wieder zurückfallen werden, wenn die Euphorie der Weltmeisterschaft abklingt, ist ein solch an den Haaren herbeigezogener Vergleich nicht so ganz ohne. Zumal im übertragenen Sinn Klinsmann ja nicht nur mit der Presse zu tun hat, sondern auch mit dem Deutschen Fußball-Bund und mit all den Bedenkenträgern, die es da und dort gibt. Man wird abwarten müssen, was nun nach der Weltmeisterschaft geschieht: Ob wir stark genug sind, ein einmaliges Talent wie Klinsmann zu halten.

SZ: Wir nehmen mal an, Sie würden es befürworten.

Grass: Aber natürlich! In zwei Jahren ist die Europameisterschaft, und diese junge Mannschaft muss in guten Händen bleiben.

SZ: Beim DFB und in der Bundesliga gibt es Widerstände gegen Klinsmann.

Klinsmann: "Da ist er als jemand zu sehen, der nicht ruhig auf der Bank sitzt, der mitleidet und sich mitfreut, wenn was gelingt, der eine glückliche Hand hat." (Foto: Foto: dpa)

Grass: Er ist einen anderen Weg gegangen, einen Weg, der, sagen jetzt ja viele, auf die Bundesliga abfärben sollte, damit die aus ihrer Provinzialität herauskommt. Was ich bezweifle, weil die Fraktion der Bedenkenträger bei uns so stark ist. Das trifft auf viele Bereiche zu, nicht nur auf die Politik.

SZ: Cesar Luis Menotti, der argentinische Weltmeister-Trainer von 1978, vertritt die These, dass sich im Fußball das Lebensgefühl eines Volkes ausdrücke. Haben Sie an der Spielweise der Klinsmann-Elf etwas erkannt, was Sie als typisch deutsch empfinden?

Grass: Diese junge Generation ist viel internationaler, als ihr bewusst ist. Wie sie gespielt hat, das ließe sich vielleicht mit der spanischen Mannschaft ein wenig vergleichen. Die hatte auch eine Art frisch aufzuspielen, die mir streckenweise imponiert hat. Das ist eine Spielweise, die nicht auf Deutschland beschränkt ist. Ich glaube auch nicht, dass Klinsmann es mit nationalem Auge gesehen hat. Er ist von der Gesamtentwicklung des Fußballs ausgegangen und von seinen Erfahrungen, die er auch international gesammelt hat, und hat versucht, es diesen empfänglichen jungen Spielern beizubringen.

SZ: In der globalisierten Gesellschaft gibt es den typischen Nationalcharakter im Fußball nicht mehr?

Grass: Wir haben beim ersten Titelgewinn 1954 im Endspiel gesehen, dass Teamgeist die Qualität eines Spielers wie des Ungarn Puskas ausgleichen kann. Das ist sicher auch Klinsmann gelungen- bis zum Halbfinale. Aber das versuchen andere Mannschaften auch.

SZ: Willensstärke, Kampfkraft, Ordnung und Disziplin gelten immer noch als deutsche Tugenden.

Grass: Schauen Sie sich Raymond Domenech an, den Trainer der Franzosen. Er wirkt in der Öffentlichkeit wie ein deutscher Oberlehrer. Dem ist das sicher nicht einfache Kunststück gelungen, berühmte Namen, alte Herren innerhalb des Fußballbegriffes vom Alter, mit jungen unverbrauchten Spielern zusammenzubringen, zu einer Mannschaft zu machen. Wenn das Wort "typisch deutsch" gelten soll, ist der französische Trainer eher typisch deutsch gewesen in seiner Art und Weise, mit Strenge hauszuhalten wie Klinsmann.

SZ: Bei den Franzosen war er zumindest bisher nicht sonderlich beliebt.

Grass: Ich will damit auch sagen: Die Politiker sollten aufhören, uns auf irgendeinen Kanon festzulegen, worauf wir Deutsche stolz zu sein haben, was unsere Tugenden sind, und nur unsere Tugenden, was typisch deutsch sein soll. Dafür ist die Welt zu sehr durcheinander gewürfelt. Das muss ja nicht von Nachteil sein. Ich weiß es aus der Literatur und aus der Kunst insgesamt, dass die größten künstlerischen Leistungen immer aus Mischungen heraus entstanden sind.

SZ: Sehen Sie in Klinsmann den weltoffenen Deutschen? Ist es das, was Ihnen an ihm gefällt?

Grass: Ja! Das. Aber er ist dabei nicht unverbindlich geworden. Er spielt uns nicht den Kosmopoliten vor. Er ist immer auch der Bäckerbursche geblieben.

SZ: Der einen Teil seiner Landsleute damit ärgert, dass er lieber im Sonnenstaat am Pazifik als in Deutschland wohnt.

Grass: Wissen Sie, ich bin so oft vaterlandsloser Geselle genannt worden, dass ich darüber nur noch lachen kann.

SZ: Die Kanzlerin nennt den schwarz-rot-goldenen Taumel der vergangenen Wochen einen "unverkrampften Patriotismus". Wie nennen Sie's?

Grass: "Unverkrampft" stimmt auf jeden Fall. "Patriotismus" klingt mir jetzt ein bisschen draufgesetzt, weil es bei vielen sicher unbewusst geschieht. Aber sie sehen Anlass, Flagge zu zeigen. Das reicht doch schon mal, ja? Da sich sonst wenig Anlass bietet, Flagge zu zeigen, lädt der Sport und die sportliche Veranstaltung dazu ein. Mein Begriff von Patriotismus beruht auf einer Formel, die der Philosoph Jürgen Habermas erfunden hat und die - leider - nicht angenommen worden ist: der Verfassungs-Patriotismus. Ich brauche für Patriotismus keinen Fußball.

SZ: Was hat die Deutschen in eine derart positive Stimmung versetzt?

Grass: Ich glaube, sie konnten sich auch mit dieser Klinsmann-Elf und den Ersatzspielern identifizieren: mit deren Begabung, mit deren Unzulänglichkeiten und den Wagnissen. Wir leben ja in einer Welt, in der Wagnisse überhaupt nicht mehr eingegangen werden. Alles wird abgesichert. Der Kompromiss wird beschlossen, bevor der Kompromiss ausgehandelt ist. Ich habe nichts gegen Kompromisse in der Politik, die muss es geben. Aber der vorgefasste Kompromiss lähmt uns; lähmt uns in vielen Fällen, nimmt uns unsere Bewegungsfreiheit. Was sie auf dem Spielfeld erlebt haben, ist eben dieses eingegangene - auch kalkulierte - Wagnis, mit dem genialen Blitz und notfalls den Einwechslungen, wenn es nicht so klappt. Ich glaube, das hat uns Deutschen und manchen anderen auch mitgerissen mit dieser Mannschaft, deren Fehler ja nicht zu übersehen waren, besonders am Anfang in der Abwehr, die sich ja dann doch gefestigt hat.

SZ: Der Historiker Hans-Ulrich Wehler von der Uni Bielefeld meint: Dieser angebliche Patriotismus in Deutschland sei nichts anderes als eine Parallelerscheinung zum rheinischen Karneval, also eine Form des Hedonismus. Er spricht aber auch von einem schweren Schlag für die Rechten, die Neonazis.

Grass: Ich bin immer dafür gewesen, das Thema "Nation" den Rechten wegzunehmen. Das ist von links und von rechts, jenseits des Rechtsradikalismus, vernachlässigt worden. Es ist mit dummen Sprüchen im Sinne eines altmodischen Patriotismus zur Phrase verkommen. Und von links hat man sich in einen Kosmopolitismus hineingerettet. Das Wort wird gemieden als sei es tabu. Das Thema Nationalbewusstsein haben wir ohne Not den Rechtsradikalen überlassen. Sicher ist diese Kollektivleistung während der Weltmeisterschaft nicht erbracht worden, um den Rechtsradikalen eins auszuwischen. Ihnen ist auf ganz freiwillige, spontane Art und Weise das Wasser abgegraben worden. Sie konnten nicht mehr mithalten; jedenfalls nicht in ihrer Form, sie hätten sich lächerlich gemacht.

SZ: In München haben Neonazis eine geplante Demonstration abgesagt.

Grass: Ich möchte noch mal sagen: Das ist keine Leistung der Politik. Sie hat rechtsradikale Gewalt verbal verurteilt. Doch fünf Minuten später wurden von Herrn Stoiber Sprüche verbreitet, von der "durchrassten Gesellschaft" angefangen bis in den letzten Wahlkampf hinein. Es ist ein wunderbares Nebenprodukt dieser Weltmeisterschaft, dass auf eine sehr einfallsreiche Art und Weise Flagge gezeigt wurde. Gut, man kann auch sagen: Das war, natürlich, wie ein Kostümfest und hatte etwas vom Volkfest oder von mir aus von Karneval.

SZ: Denken Sie, dass die Deutschen im Umgang mit ihrer Nationalität ein Stück Normalität erlangt haben?

Grass: Mit diesem Wort bin ich sehr vorsichtig. Wir haben nun mal die Last unserer Vergangenheit. Und wenn wir mit einem gewissen Selbstbewusstsein, ich will nicht sagen mit Stolz, wahrnehmen, dass wir uns in Deutschland seit 1945 von Generation zu Generation immer neu mit dieser Last herumschlagen, die junge Generation weiß Gott nicht mehr als mitschuldig oder gar als Täter, sondern als Nachgeborene, und dennoch eine Verantwortung spüren, dann ist das eine Leistung. Es ist eine Leistung, die ich auch im Vergleich mit anderen Nationen, die damals zu den Siegermächten zählen, besonders hoch schätze. Denn in England und Frankreich hat man zum Beispiel versäumt, sich mit der im Vergleich zur deutschen Last geringeren Last der Kolonialherrschafts-Verbrechen überhaupt oder eingehend zu befassen. Für Holland gilt dasselbe, für Belgien. Man könnte die Amerikaner im Grunde auch nennen.

SZ: Das entspricht der Haltung von Siegern.

Grass: Siegen macht gelegentlich dumm. Wir waren gezwungen; uns blieb gar nichts anderes übrig. Selbst wenn wir meinten, jetzt ist genug getrauert und jetzt ist genug bewältigt - in Anführungsstrichen. Diese Auseinandersetzung ist eine Leistung, die auch mehr und mehr, glaube ich, vom Ausland gesehen und anerkannt wird. Es ist auch der jungen Generation zu wünschen, dass sie nicht mehr, wenn sie ins Ausland reist, mit Komplexen reisen muss. Aber das Wort "Normalität" würde ich in dem Zusammenhang nicht gebrauchen.

SZ: Wobei sich das Bild von den Deutschen im Ausland durch die WM offenbar verändert hat. Zumindest lassen Äußerungen darauf schließen. Der Stern zitiert einen Kulturredakteur der brasilianischen Zeitung O Globo, der sagt: "Ich habe keine der depressiven Figuren gesehen, die ich aus den Filmen von Rainer Werner Fassbinder kannte; nur höfliche Menschen mit guten Manieren, hilfsbereit und gut gelaunt, in einem organisierten, aber entspannten Land."

Grass: Ich bin bei solchen Äußerungen vorsichtig. Auf der einen Seite ist das Bild, das man sich im Ausland von uns gemacht hat, zu dem auch aus verschiedensten, auch aus Propaganda-Gründen beigetragen wurde, und das auch zum Teil der Realität entsprach. Das Deutschland der Nachkriegsjahre, das ich erlebt habe, war von Restauration gezeichnet. Es gab ein Spießbürgertum, auch das Deutschland der Neureichen. Die Proteste der 68-er gingen dann in die Breite der Bevölkerung hinein. Die Auseinandersetzungen über die damals anstehenden Themen, die deutsche Vergangenheit, Auschwitz wie auch der Vietnamkrieg oder die Verkrustung der Gesellschaft wurde in allen Familien diskutiert. Das ist, glaube ich, der erste, bis heute nachwirkende positive Bruch in einer vermieften und verkrampfen Tradition gewesen. Weg von diesem Obrigkeitsdenken, von diesem Wegbuckeln und von diesem opportunistischen Anpassen. Was wir heute erleben, baut darauf auf. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu denken.

SZ: Was bleibt haften von dieser Weltmeisterschaft? Welche Szene, welcher Spieler hat sich Ihnen besonders eingeprägt?

Grass: Also, für mich ist es ein überragender Spieler, einer, der beim letzten Spiel gefehlt hat: Frings. Ich glaube auch, dass Ballacks Leistung bei diesem letzten Spiel etwas nachgelassen hat, weil Frings fehlte. Die beiden korrespondieren sehr gut, sie sind sehr gut zusammengewachsen. Oder die Eingewechselten, Odonkor oder so einer, der im Strafraum Wunderbares gezeigt hat, wie Neuville. Bewundernswert ist, wie trotz der Verletzung der junge Philipp Lahm aufgespielt hat. Man kann eine ganze Reihe nennen. Schneider! Schneider ist von seiner Technik her vergleichbar mit den Italienern. Bloß wenn er aufs Tor schießt, hört es auf. Leider. Ich fand die Szene vor dem Elfmeterschießen zwischen Kahn und Lehmann schon bewegend.

SZ: Der kurz vor der WM als Stammtorwart abgelöste Kahn sprach seinem Nachfolger Mut zu. Beeindruckte Sie diese Haltung?

Grass: Ja, doch. Ja. Das ist jetzt keine Kritik, die ich äußere. Ich glaube, dass die Position des Torwarts, wenn er gut ist, immer extreme Figuren fördern wird und hervorbringen wird - bis zum Exzesshaften, was auch bei Kahn sehr ausgeprägt ist, bis zur gelegentlichen Kälte bei Lehmann. Und wenn zwei derartige Einzelexemplare, die sich in ihrer Art so unterscheiden von den Feldspielern, in einer solchen Situation zusammenfinden, ist das schon eine bewegende Szene.

SZ: Die ganze Welt schwärmt vom 34-jährigen Zinédine Zidane.

Grass: Zidane ist natürlich in seiner Bescheidenheit, der Meisterlichkeit seines Spiels, in der spielerischen Ruhe, wie er, wenn er einen Pass gibt, genau weiß, wo der hin muss: Das ist einzigartig. Und auch, wie er unter fußballerischen Vorgaben "im Alter" bereit gewesen ist, nochmals mitzumachen in der Nationalmannschaft, ist großartig. Und was er in all seiner Bescheidenheit in einem Land leistet, das auch nicht auf französische Art und Weise fertig wird mit den vielen Einwanderern aus Nordafrika, das ist schon großartig. Das wird wahrscheinlich auch von vielen Franzosen so wahrgenommen. Und sicher auch von den Leuten, die in der Banlieue von Paris und anderen Städten leben, unter bedrückenden Umständen, wo es zu Gewaltausbrüchen kommt, wie wir sie erlebt haben. Da ist Zidane sicher jemand, der vorbildlich wirkt.

SZ: Wenn Sie nicht im Stadion waren, haben Sie ferngesehen. Als zufriedener oder von Moderatoren und Kommentatoren eher genervter Zuschauer?

Grass: Am frischesten ist wirklich der Trainer von Mainz bei der ganzen Kommentierung, weil der auch eine Art hat, dem Laien etwas zu erklären über den Spielverlauf: analytisch, aber ohne trocken zu sein. Während mir die meisten anderen sehr routiniert vorkommen.

SZ: Dass Sie den Mainzer Jürgen Klopp schätzen, überrascht uns jetzt nicht wirklich.

Grass: Ja, das ist auch ganz gewiss ein Trainer wie Klinsmann. Das ist die Generation von Trainern, auf die man ein Auge haben sollte.

SZ: Ihr Lieblingsklub ist erklärtermaßen der SC Freiburg. Haben Sie nicht auch einen Favoriten zumindest hier in der Nähe von Lübeck?

Grass: Also, durch meinen Sohn, der inzwischen tätiges Fanmitglied vom FC St. Pauli ist, verfolge ich den auch und habe, als St. Pauli in Finanznot war, auf dem heiligen Rasen und vor dieser wunderbaren Kulisse mit dem Hamburger Dom und dem Spielfeld immerhin vor 2000 Leuten, die auf der Tribüne saßen, auf die Dauer eines Spiels, zugunsten des Vereins zweimal 45 Minuten aus meinem Buch "Mein Jahrhundert" gelesen. Ich hatte alle Sportgeschichten herausgenommen, mir eine Schiedsrichterpfeife geliehen, meine Lesung angepfiffen, nach 45 Minuten abgepfiffen zur Halbzeitpause, wieder angepfiffen und pünktlich aufgehört. Ohne Verlängerung.

SZ: 2000 Leute waren da?

Grass: Ja. Die Tribüne war voll. Das hat mir Spaß gemacht, weil es ein anderes Publikum war; ein gänzlich anderes Publikum als bei normalen Literaturlesungen. Ich habe zum Beispiel die Geschichte der 74er-Weltmeisterschaft gelesen, in der Deutschland gegen Deutschland spielte. Das berühmte Sparwasser-Tor zum 1:0 für die DDR. Diese Geschichte erzählt ja aus der Perspektive des Spions Guillaume, der zu der Zeit im Gefängnis sitzt, aber von der Gefängnisleitung einen Fernsehapparat in die Zelle bekommt. Er weiß nicht, für welches Deutschland er jubeln soll, ist immer hin- und hergerissen aufgrund seiner Bewusstseinsspaltung. Er war ein Bewunderer von Willy Brandt und hat ihn gleichzeitig bespitzelt. Aus dieser Bewusstseinsspaltung heraus habe ich die Geschichte entwickelt. Ich fand bemerkenswert, wie sich die Leute im Stadion dafür interessiert haben.

SZ: Vor einiger Zeit haben Sie angemahnt, man müsse den "Kapitalismus zivilisieren".

Grass: Da kommt man sofort auf die Fifa. Hier muß sich etwas ändern. Doch trotz dieses kapitalistischen Zugriffs, dieser Gewinnmacherei, ist es zu einem Volksfest gekommen; die Weltmeisterschaft wurde wirklich gefeiert. Das ist das Wunderbare, und auch das ist ein Nebenprodukt dieser WM-Geschichte. Man hat sich nicht um die Fifa gekümmert. Diese Stimmung hat sich dem Zugriff der Fifa entzogen. Mit "zivilisieren" meine ich in diesem Fall, dass der Fifa innerhalb des kapitalistischen Wildwuchses ein Maß angelegt werden muss.

SZ: Welche Botschaft geht von dieser WM aus?

Grass: Also, die naheliegende Botschaft für mich ist: In zwei Jahren ist Europameisterschaft.

© SZ vom 8.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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