Internationale Bilanz:Wackeln im Tanzschritt

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Unerwartete Gewinner, gute Zeiten für Außenseiter, emotionale Rückkehrer und Athleten auf Umwegen, ein Präsident im Nebenjob, eine Springerin, die von anderen getragen wurde - ein Rückblick auf eine Woche Weltmeisterschaft in Peking.

Von Johannes Knuth

Noch einmal hebt sich der Vorhang auf der Bühne der Welt-Leichtathletik, am letzten Tag der WM in Peking. Während der vorherigen neun Tage traten verschiedene Darsteller auf, ihre Geschichten waren mal bunt, mal beeindruckend, mal traurig. Es war eine beeindruckende Choreografie, wenn auch ohne klaren Rahmen, der die Erzählungen einbettete. Oder doch?

Gute Zeiten für Außenseiter

Ghirmay Ghebreslassie kletterte auf das Podium im Pressesaal, der junge Läufer aus Eritrea trug noch immer die Unbekümmertheit im Gesicht, die ihn in den zweieinhalb Stunden zuvor durch die Hitze Pekings getragen hatte. Ghebreslassie war den Favoriten im Marathon nach 30 Kilometern davongelaufen, in einem Moment, in dem niemand ans Davonlaufen dachte. Manchmal reicht es, die Spielregeln seiner Sportart etwas zu ändern, dann werden aus Außenseitern plötzlich Sieger. Nun saß der neue Marathon-Weltmeister Ghebreslassie also vor den Reportern und sollte erklären, was er sich bei seinem Lauf gedacht habe. "Ich möchte erst einmal alle beglückwünschen", begann Ghebreslassie: "Meine Teamkameraden, meine Konkurrenten, meinen Manager Mister Jos (Hermens, ein Niederländer, Anm.), ich will mich bedanken bei allen Zuschauern, bei allen Organisatoren, beim Verband, ich danke auch den Menschen in Eritrea. - Entschuldigung, wie war noch mal die Frage?"

Es gab einige Außenseitersiege bei dieser WM, Nicholas Betts zum Beispiel, der über 400 Meter Hürden zeigte, dass Kenia in den Sprint expandiert. Wobei das von zwei Dopingfällen kenianischer Kurzstrecklerinnen befleckt wurde. Kenia gewann am Sonntag die Nationenwertung, mit insgesamt 16 Medaillen, sieben davon in Gold; aber ob das eine gute Nachricht ist angesichts der Dopingwolken über ihrem Verband, ist eine andere Geschichte. In ihrem geliebten Marathon gewinnen die Kenianer seit einer Weile nicht mehr. Wenn es nach Mister Jos geht, wird sich daran nicht zwingend etwas ändern. "Die Kenianer machen sich im Frühjahr kaputt, um überhaupt ins Team zu kommen", sagte er in Peking. Gute Zeiten für Außenseiter.

Wieder auf der Höhe: Die Kroatin Blanka Vlasic knüpfte nach längerer Verletzungsmisere als Hochsprung-Zweite an ihre früheren Erfolge an. (Foto: Cameron Spencer/Getty)

Der Glaube der anderen

Blanka Vlasic hielt es nicht mehr auf der Matte, wo sie nach ihrem Flug über 2,01 Metern gerade gelandet war. Sie stürmte auf die Tartanbahn, schrie, wackelte im Tanzschritt über die Bahn. Vlasic hat keine Scheu, ihre Emotionen zu zeigen. Am Ende gewann zwar die Russin Maria Kutschina, Vlasic war aber sehr zufrieden mit Platz zwei. "Es gab so viele Leute, die nie aufgehört haben, an mich zu glauben. Deshalb habe ich immer weitergemacht", sagte sie.

Vlasic war nach zwei WM-Titeln (2007, 2009) und einem WM-Silber (2011) vom Verschleiß gestoppt worden, vor allem an der Achillessehne. Es ist nicht einfach, nach einer Pause an Höhen zu scheitern, die man früher als Nachwuchsathlet übersprang. "Du denkst die ganze Zeit, dass du es doch konntest. Du willst diese Emotionen von damals immer und immer wieder erleben", sagte die Hochsprung-Dritte Anna Tschitscherowa stellvertretend für die Rückkehrer, die in Peking wieder reingefunden hatten in ihren Sport. Jessica Ennis-Hill zum Beispiel, die britische Siebenkämpferin, die nach eineinhalb Jahren Pause wieder Weltmeisterin wurde. Neben Tschitscherowa saß Vlasic, die gerade zurückgefunden hatte auf den Gipfel ihres Sports und ihrer Emotionen. Sie nickte.

Außenseiter-Sieg: Marathon-Gewinner Ghirmay Ghebreslassie aus Eritrea. (Foto: Kirby Lee/USA TODAY)

Laufen und schweigen

Das Manöver war riskant, aber wohl gut gemeint: Der Hürdenläufer Sergej Schubenkow warf seine Spikes als Andenken ins Publikum, das ihn feierte für seinen Weltmeistertitel über 110 Meter Hürden, in russischem Landesrekord (12,98 Sekunden). Nach allem was bekannt ist, überstanden die Beschenkten die Geste unbeschädigt. Es war eine schwierige Woche für die russische Leichtathletik, eine Welle von positiven Dopingtests hatte das Team ausgedünnt, hinzu kamen pikante Filmaufnahmen aus der ARD-Dokumentation Anfang August. Bei der WM in Moskau vor zwei Jahren hatten die Russen den Medaillenspiegel angeführt. Diesmal gewannen sie vier Medaillen, das reichte für Platz neun. Athleten wie Schubenkow taten sich schwer, eine Einstellung zu all den Fällen und Verdächtigungen zu finden. "Das ist natürlich nicht gut für das Klima in der Leichtathletik", sagte er. Mehr nicht.

Wenige Minuten, nachdem Schubenkow seine Schuhe in die Ränge geworfen hatte, bestätigte die russische Anti-Doping-Agentur, dass sie Russlands einzigen Teilnehmer im 50-Kilometer-Gehen nicht starten lassen würde, offenbar wegen Blutdopings. Der Rest des medaillenerfahrenen Kaders war gar nicht erst nach Peking gereist: Zuletzt hatten sie in Russland 25 Geher als Dopingsünder enttarnt. "Wir machen nur eine schlechte Phase durch", sagte Russlands Sportminister Witali Mutko. Walentin Maslakow, der nach der ersten ARD-Dokumentation im Januar zurückgetreten war, interpretierte die Formdelle etwas anders. "Jeder macht das gleiche", sagte er dem Guardian: "Russland ist nicht die führende Nation auf diesem Gebiet."

Präsident im Nebenjob

Dilschod Nasarow dankte seiner Familie. Er dankte seinem Manager, der ihn sehr gut präpariert habe für dieses Finale im Hammerwerfen, aus dem Nasarow aus Tadschikistan, 33, gerade eine Silbermedaille mitgenommen hatte. "Es hat eine Weile gedauert, bis ich es geschafft habe", sagte er. Der Hammerwurf mit seinen vier Drehungen ist eine fordernde Disziplin, und er wird noch fordernder, wenn man sich daneben eine zweite Laufbahn gönnt. Nasarow ist auch Chef seines nationalen Verbandes. "Das ist kein Problem für mich, das zu kombinieren. Ich habe ein starkes Team um mich herum", sagte er.

Nicht jeder Sportler gibt einen guten Funktionär ab, aber wenn man Nasarows Lebenslauf studiert, schimmert ein vielversprechendes Talent durch. Ämter sammelt er schon wie die Großen seiner Zunft. 2014 hob ihn die Regierung ins Komitee für "Jugend, Sport und Tourismus", als Vorsitzenden. Man kann nur hoffen, dass das Komitee nicht allzu oft im Sommer tagt, Nasarow möchte 2016 ja bei den Olympischen Spielen in Rio mitwirken. Clemens Prokop, sein deutscher Kollege, ist nach SZ-Informationen übrigens nicht gemeldet.

Sieg, Rekord und Scheck: Für Ashton Eaton haben sich die Zehnkampf-Strapazen gelohnt. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Auf Abwegen

Manchmal lernt man erst am Ende einer Reise, dass ein Umweg noch schneller ans Ziel führt, der Zehnkämpfer Ashton Eaton ist so ein Fall. Eaton, 27, war 2012 Olympiasieger und 2013 Weltmeister - und lernte danach, dass es nicht einfach ist, länger als einen Sommer über eine Disziplin zu herrschen. Er wandte sich für eine Saison den 400 Metern Hürden zu. Nachdem sich Eaton in einen Zehnkämpfer zurückverwandelt hatte und am Freitag in den Startblock stieg, wusste er: "Die Pause hat mir gezeigt, wie sehr ich den Zehnkampf vermisst habe." Am Samstag war Eaton wieder Weltmeister, seinen Weltrekord hatte er auch verbessert, auf 9045 Punkte.

Die Amerikaner mussten sich gedulden, bis sich die gewohnten Erfolge einstellten. Manche zeigten, welch innovativen Kräfte ihrem Sport innewohnen, der Dreispringer Christian Taylor zum Beispiel. Nach der WM 2013 wechselte er sein Sprungbein, es war ein riskanter Eingriff im laufenden Betrieb, aber Taylor blieb nichts anderes übrig. "Ich hatte nicht mehr viel Knorpel im linken Knie", sagte er. Mit dem rechten Bein sprang er auch ganz ordentlich, überbot mit 18,21 Meter fast Jonathan Edwards Weltrekord (18,29). Und bei Eaton hatte es den Anschein, als könne er Umwege auf seiner Reise mittlerweile genießen. "Es ist gut zu wissen, dass ich viele Entscheidungen aus richtigen Gründen getroffen habe", sagte er. Manchmal muss man Abstand zu der Sache schaffen, an der einem am meisten liegt.

© SZ vom 31.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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