Ingo Steuer - zwischen Sport und Stasi:Ein Talent für schwierige Pirouetten

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Der Eiskunstlauftrainer und einstige Mitarbeiter der Staatssicherheit sieht sich nur als Sportler und ist sich keiner Schuld bewusst. Der Streit um seine Spitzeldienste aber zeigt, wie zerrissen das vereinte Land noch ist.

René Hofmann

Es gibt eine Version der Geschichte, die ist ziemlich einfach. In ihr gibt es keine Widersprüche, keine Zweifel, keine Opfer. Es ist Ingo Steuers Version. "Man wurde in einen fahrenden Zug gesetzt", sagt er, "und wenn man nicht gemacht hat, was sie gesagt haben, hieß es an der nächsten Station aussteigen."

Der belastete Trainer: Ingo Steuer als Coach der Chemnitzer Eiskunstläufer Aliona Savchenko und Robin Szolkowy während der Olympischen Spiele 2006 (Foto: Foto: AFP)

Das Thema bewegt ihn. Ingo Steuer ist ein Mensch, dem jeder ansieht, wenn ihn etwas packt. Dann leuchten seine Augen, dann hüpft ihm immer wieder eine Strähne vor die Stirn, weil er so wild gestikuliert.

Jetzt, da es um das geht, was der 40-Jährige vor zwei Jahrzehnten getan haben soll, hüpft die Strähne heftig. "Das Thema ist so hochkompliziert und sensibel. Das wird die Deutschen noch lange beschäftigen." Andere Sätze von ihm lauten: "Ich kann jeden Tag in den Spiegel gucken." - "Man hat seine Arbeit gemacht, und meine Arbeit war das Eislaufen." - "Man hat gemeint, alles richtig zu machen. Man wollte ja alles richtig machen, denn sonst hieß es ja aussteigen."' - "Ich habe viele kommen und gehen sehen."

Steuer sitzt in einem tiefen Sessel. Links von ihm sitzt seine Anwältin, rechts das Eiskunstlaufpaar, das er seit vier Jahren als Trainer betreut: Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy. Es soll um Steuer gehen. Um das, was er zwischen 1985 und 1989 dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR zugetragen hat.

Es soll alleine um Steuer gehen, aber alleine ist er nicht zu bekommen. Er sagt immer "wir", spricht ständig vom "Team", doch wer in diesem Team die Richtung angibt, ist leicht zu erkennen: Der VW-Bus, mit dem es reist, hat im Kennzeichen die Zahl 97 und die Buchstaben IS. Auf den Tag genau vor zehn Jahren, am 19. März 1997, wurde Ingo Steuer in Lausanne mit Mandy Wötzel Paarlauf-Weltmeister.

In dieser Woche sind wieder Weltmeisterschaften, sie beginnen an diesem Montag in Tokio. Nun könnte Steuer wieder Weltmeister werden, als Trainer. Es wäre ein Triumph des Trotzes. "Als Sportler will man immer zeigen, was man kann", sagt Steuer. In seiner Version der Geschichte geht es immer nur um den Sport, ums Gleiten und Springen und um das sich Drehen auf gefrorenem Wasser.

Das Kreuz mit der Lüge

Steuers Leidenschaft dafür hat früh begonnen. Im Alter von fünf Jahren stand er zum ersten Mal auf der Eisbahn. Er fiel prompt hin, andere Kinder stürmten an ihm vorbei und neckten ihn. Er dachte sich: "Denen zeig ich's."

Ehrgeiz hatte er schon damals. Seine Mutter war Leichtathletin, sein Vater spielte Eishockey und kickte. Auch Ingo Steuer wäre lieber dem Fußball nachgerannt - wie der ein Jahr ältere Bruder. Aber seine Begabung für Sprünge und Pirouetten blieb dem Sportsystem der DDR nicht lange verborgen.

Die Talentspäher schickten ihn in die Kreisjugendschule und zum Eislauf-Stützpunkt Karl-Marx-Stadt: viele bekannte Namen, viel Tradition - das gefiel Steuer. Als er 15 Jahre alt war, wurde er vom Einzel- zum Paarlauf delegiert. Das gefiel ihm gar nicht - von jemandem abhängig zu sein. Er wollte selbst etwas werden. Drei Jahre später wurde er Junioren-Weltmeister im Paarlauf. Er hatte seine Partnerin einfach mitgerissen.

Als eines Tages - nach Aktenlage war es der 10. Dezember 1984, ein Montag, - ein Oberleutnant kam und Steuer fragte, ob er der Stasi zutragen wolle, zögerte der gerade volljährig gewordene Schüler nicht lange. Am 25. Januar 1985 sicherte er dem Ministerium für Staatssicherheit handschriftlich zu, es "bei der Durchsetzung seiner verantwortungsvollen Arbeit im Kampf gegen den Feind jederzeit mit den mir gegebenen Mitteln zu unterstützen".

Zur Wahrung der Konspiration wählte er den Decknamen "Torsten". 84 Berichte und 4400 DDR-Mark Spitzel-Lohn sind dokumentiert. "Da kamen diese Leute von der Stasi, mit denen konnte ich erstmals reden", hat Steuer einmal auf die Frage geantwortet, warum er auf das Angebot einging. Jetzt sagt er: "Für mich war das normal."

Heißt das, er dachte, alle seien inoffizielle Stasi-Mitarbeiter? "Ja logisch", sagt Steuer, "natürlich. Man ist ja gar nicht auf den Gedanken gekommen, etwas anderes zu denken. Wir hatten kein Westfernsehen." Und warum hat er dann bei der Einstellung zur Bundeswehr auf die Frage nach früheren Stasi-Kontakten "nein" angekreuzt?

Darauf antwortet er mit einer Gegenfrage: "Wenn Sie darin die einzige Möglichkeit sehen, das weiterzumachen, was Sie jahrelang gelernt haben - oder dies alles mit nur einem Kreuzchen vorbei ist, was würden Sie tun?" Er gestikuliert. Die Haare fliegen, die Augen leuchten. So viel Inbrunst kann niemand spielen.

Ähnlich bestimmt muss er auch im vergangenen Jahr aufgetreten sein, vor der Stasi-Kommission des Deutschen Sportbundes, die vor den Olympischen Spielen in Turin alle Offiziellen noch einmal durchleuchtete. Steuer war 1998 als Sportler bei den Spielen in Nagano gewesen.

Strahlend zu Silber: Steuer als aktiver Sportler mit seiner Partnerin Mandy Wötzel während der Olympischen Spiele 1998 in Nagano (Foto: Foto:)

Auch damals waren die Stasi-Akten kontrolliert worden. Er wähnte sich in Sicherheit, sakrosankt, dachte ernsthaft, die fünf Mitglieder des Komitees wollten ihm zu seinem fulminanten Einstand als Trainer gratulieren. Es kam ganz anders.

Die Anhörung dauerte 45 Minuten. Ähnlich schnell empfahl die Kommission anschließend dem Nationalen Olympischen Komitee, Steuer die Turin-Nominierung zu entziehen, was ähnlich schnell auch geschah. Das Landgericht Berlin hob den Beschluss später wieder auf - aus formalen Gründen.

Die prinzipielle Frage, ob Steuers Verfehlungen so schwer wiegen, dass die Sportverbände ihm das Recht verweigern können, die Bundesrepublik künftig zu repräsentieren, ist noch nicht entschieden. In Berlin und in München laufen Grundsatzklagen. Zudem hat die Deutsche Eislauf-Union Joachim Gauck, der von 1991 bis 1995 die Aufarbeitung der Stasi-Akten geleitet hat, um eine Expertise gebeten.

Ein paar Quadratmeter DDR

Bis auf weiteres wird Steuer eine der umstrittensten Figuren im deutschen Sport bleiben. Die Geschichte ist längst nicht mehr nur seine, es geht um viel mehr: Es geht um die Frage, wie das Land mit dem Spitzensport umgehen will. Wie viel die Gesellschaft bereit ist, für eine Olympische Medaille zu geben. Welche Mittel sollen grundsätzlich legitimiert sein, um sie zu erringen. Diese Frage zielt mitten hinein in das Mark der nationalen Befindlichkeit.

Als Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy Ende Januar in Warschau mit einer hinreißenden Kür verdient zum EM-Titel glitten, rief der TV-Kommentator Sigi Heinrich bei der Siegerehrung: "Was war, darf nie vergessen sein? Ach, ich weiß nicht. Man sollte jetzt Mal auf Ingo Steuer zugehen und das Kapitel schließen."

Es klang wie ein Schrei nach Gerechtigkeit, der vielerorts ein Echo fand. Die Freie Presse aus Chemnitz kommentierte: "Der Erfolg zwingt zur Versöhnung." Bei der Rückkehr erwarteten 200 Fans das Trio, und Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig sagte: "Chemnitz hat einen weiteren Grund, stolz zu sein."

Stolz. Das ist ein großes Wort. In der Welt, in die Lothar Raschker jeden Tag eintaucht, kommt es selten vor. Raschker sitzt in einem sechsstöckigen Zweckbau im Osten von Chemnitz. Er ist 52 Jahre alt, trägt seine Haare kurz gestutzt und einen grauen Schnauzbart. Er ist der stellvertretende Leiter der Chemnitzer Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde.

Akten, die für Aufsehen sorgen

Er war unter denen, die im Dezember 1989 die Dependancen des Ministeriums für Staatssicherheit rund um Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz damals noch hieß, besetzten und die Akten in Sicherheit brachten. Aus Angst, die Stasi könne noch einmal nach den Blättern greifen, schleppten sie die Unterlagen in Atombunker. Acht Kilometer Aktenmaterial hat die Außenstelle aufzuarbeiten.

Für den Eislaufstützpunkt war einst die Abteilung Zwanzig zuständig: "Bearbeitung Opposition - Kirchen, Jugend, gesellschaftliche Organisationen, Kunst, Sport." Immer wieder tauchen aus dem Bereich Akten auf, die für Aufsehen sorgen. Steuers ehemalige Trainerin Monika Scheibe flog schon kurz nach der Wende als IM "Anne Rose" auf.

Johannes Wehr, einst Stützpunktleiter und heute Vize-Präsident der Deutschen Eislauf-Union, wurde erst vor wenigen Wochen als einstiger IM "Harro" enttarnt. Seit 1992 arbeitet Raschker in der Behörde. Er darf kein Urteil abgeben über einzelne Fälle, nur allgemeine Informationen. Bei ihm geht es nicht um eine Geschichte, sondern um die Geschichte ganz allgemein und ihre Abgründe und Verklärungen.

Raschker erzählt von einer Sportlerin, deren Karriere wegen ihrer Westkontakte in Gefahr geriet. Von einem Pfarrer, für den die Stasi extra Verkehrskontrollen inszenierte, um ihn zu verunsichern. Von einem IM-Pärchen, bei dem beide die gemeinsamen Bettgeschichten an die jeweiligen Führungsoffizier weitertrugen. Manche Geschichten klingen so abstrus, dass man lachen möchte.

Aber Raschker sagt auch: Wer etwas weitergab, egal was, der hatte keine Kontrolle mehr, was daraus wurde. Er sagt: Zu behaupten, jeder habe gespitzelt, verhöhne all diejenigen, die sich der Stasi verweigert haben. 1985, als Steuer seine Verpflichtungserklärung unterschrieb, ging die Stasi im Bezirk noch weitere 1995 Personen an. 175 sagten "nein".

Wie schwer das war, lässt sich in der Außenstelle auch besichtigen. Es gibt ein Zimmer, in dem ein paar Quadratmeter DDR konserviert sind. Aus altem Mobiliar haben Mitarbeiter das Arbeitszimmer eines Führungsoffiziers rekonstruiert. Ein Schrank, ein Schreibtisch, ein Fenster. Es riecht nach abgestandener Zeit. Grauer Boden, graue Wände, angegraute Vorhänge. Neben der Tür sozialistische Parolen. An solchen Orten wurden Menschen geschrumpft. Zu Fällen, Vorgängen, Registriernummern.

Es gibt noch so einen Platz in Chemnitz, auch wenn das zunächst komisch klingt: das Eislaufzentrum, wo unter anderem Katarina Witt trainierte. Auf den ersten Blick ging es hier um Kunst, um individuelles Können. Aber das täuscht. Tatsächlich ging es nur darum, das Feuer in der Medaillenschmiede am Glühen zu halten und darum, dass die Beste nicht davonlief.

Das war die große Angst, dass Witt, der Star, sich absetzt. Hier übte auch Ingo Steuer, und hier lässt er heute üben. An der Decke: Wellblech. An den Wänden: Waschbeton, in blassen Regenbogen-Farben gestrichen. Daran: Nachrichten aus der Glitzerwelt - Artikel über die Erfolge von Steuer und seinem Paar. Ein Leserbrief aus der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland geißelt die "westdeutsche Siegermentalität", die den dreien entgegenschlage.

Das Training beginnt pünktlich. Steuer korrigiert, er demonstriert. Mal spielt er den Mann, mal die Frau. Klappt etwas nicht, zieht er die Wangen ein und die Backenknochen beginnen zu mahlen. Ihm ist auch anzusehen, wenn ihm etwas nicht passt. Er ist kein einfacher Typ.

Als sich abzeichnete, welches Potential in Sawtschenko und Szolkowy steckte, ließ er seine anderen Paare fallen. Alles oder nichts - so hat er es immer gehalten. "Wenn ich aufs Eis gehe, denke ich, dass ich der beste Trainer der Welt bin", sagt Steuer.

Die meisten seiner Kollegen achten seinen Erfolg, aber sie verachten ihn für seine Attitüde. Noch nie hat es einer so jung so schnell nach oben geschafft. Sein Perfektionsstreben, seine Dickköpfigkeit - all das braucht es, um Sportler an die Weltspitze zu bringen. Doch all das schafft auch Reibungsflächen.

Alle werden bestraft

Steuer hat der Stasi geholfen, aber er ist nicht in die Einheitspartei eingetreten, er hat sich nicht für alles einspannen lassen. Obwohl seine Eltern Mitglieder waren, und obwohl das seiner Karriere sicher geholfen hätte. Die Geschichte hat also viele Facetten, und nicht alle sind eindeutig schwarz oder weiß.

Die anderen beiden ehemaligen Stasi-Spitzel, die von den Spielen in Turin ausgeschlossen wurden, sind in diesem Winter laut- und widerstandslos in den Sport zurückgekehrt: Der Trainingswissenschaftler Hans Hartleb, ehemals IM "Falun", bei den Biathleten und Henry Glaß, einstiger Deckname "Paul Hugo", als Co-Bundestrainer der Skispringer. Steuer dagegen musste sich sein Startrecht immer wieder erklagen.

Natürlich hat er die Bundeswehr bei der Einstellung belogen und ist deshalb aus der Armee geflogen. Aber warum schmiss diese Robin Szolkowy gleich mit hinaus? Ist es verhältnismäßig, wenn die Karrieren zweier Sportler unter dem leiden, was ihr Trainer getan hat, als sie noch nicht einmal lesen konnten? Sawtschenko war 19 Jahre alt und sprach kein Deutsch, als sie nach Chemnitz kam. Szolkowy arbeitete als Aushilfskraft an einem Schweißroboter.

Kürzlich traten sie zusammen auf dem zugefrorenen See in St. Moritz bei einer Gala vor 500 Gästen auf, von denen jeder 800 Euro für eine Eintrittskarte gezahlt hatte. Wer will den beiden ernsthaft vorwerfen, dass sie an dem Mann festhalten, der ihnen die Tür in diese Welt aufgestoßen hat? Mit welcher Legitimation entzieht eine Behörde einer ganzen Sportart die Förderung, nur weil ein Trainer in Ungnade gefallen ist, wie es das Bundesinnenministerium im vergangenen Jahr getan hat?

In der Auseinandersetzung um Ingo Steuer sind die Relationen verrutscht. Der Fall hätte ein Beispiel werden können, wie souverän sich umgehen lässt mit einer Stasi-Enthüllung 16 Jahre nach der Wende. Stattdessen wurde er zum Beispiel dafür, wie tief zerrissen die Republik noch ist, wie viel Ballast unaufgearbeitet liegengeblieben ist und wie unterschiedlich der Blick auf das ist, was war.

Diese Geschichte ist aber auch nicht so einfach, wie Ingo Steuer sie sieht. Wie fast immer im Leben gibt es Zweifel, Widersprüche, Opfer - und Fortsetzungen: Auf dem Schreibtisch von Lothar Raschker liegen schon die nächsten Akten.

© SZ vom 19.03.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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