HSV-Tagebuch:Auf dem Weg ins Nirvana

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Unter Anleitung des Buddhisten Thomas Doll hat der Hamburger SV die höchste von vier Stufen der Erlösung erreicht.

Christian Zaschke

Seit Spielbeginn regnet es. Es ist die Art Regen, die beständig fällt, nie zu stark, nie schwächer werdend, es ist die Art Regen, die nach einer langen Weile die Welt volllaufen lässt, bis nur noch eine Arche auf ihr schwimmt.

Der Leidende: Thomas Doll. (Foto: Foto: dpa)

Es ist die Art Regen, wie man sie aus Hamburg kennt. Aber Hamburg spielt auswärts, auf dem Tivoli in Aachen, und alle Spieler sind nun gezeichnet davon, dass sie 90 Minuten lang auf einem Rasen herumgelaufen sind, den der Regen in ein Feld aus Schlamm verwandelt hat. Hamburg führt 3:2.

Wieder fliegt der Ball in den Hamburger Strafraum, der Hamburger Verteidiger Bastian Reinhardt stößt sich ab im Schlamm, um durch die Luft und durch den Regen zu fliegen, das ist es, was die Fußballer kämpfen nennen.

Er will dem Ball die Stirn bieten, ihn abwehren per Kopf, und dann müsste es doch gut sein, vorbei sein, dann würde der HSV 3:2 gewonnen haben, und diese Zeit voller Demütigungen und voller Zeichen wäre zuende. Reinhardt fliegt, er erwischt den Ball mit der Stirn, und dann fliegt der Ball von Reinhardts Stirn ins eigene, ins Hamburger Tor.

3:3, und Thomas Doll, der Trainer des HSV, sitzt auf seiner Bank und starrt auf das Spielfeld. Der Regen fällt. Der biblische Regen, schreiben einige Reporter. Ein Reporter sitzt auf der Tribüne des Tivolis und denkt in diesem Moment - so hat er es erzählt -, um das als Trainer aushalten zu können: Was musst du da sein, was musst du da werden, mein Gott, da musst du Buddhist werden. Dann fällt ihm ein, dass Thomas Doll bereits Buddhist ist.

Das buddhistische Heilsziel ist das Nirvana. Es geht darum, aus dem Kreislauf des Leidens auszutreten, und zwar durch Erleuchtung. Nirvana bedeutet das Auslöschen aller an die Vorstellung vom Dasein bindenden Faktoren.

Seltsam, dass all die Kommentatoren, die das Leid des HSV beschreiben, seltsam auch, dass die Verantwortlichen selbst, die dem Leid so hilflos gegenüberstehen, nie daran gedacht haben. Dabei ist es die nächstliegende Erklärung. Der Hamburger SV befindet sich, angeleitet vom Buddhisten Doll, auf dem Weg ins Nirvana.

Im Buddhismus werden vier Stufen der Erlösung unterschieden. Erstens: die Stufe des Stromeintritts. Zweitens: die Stufe der Einmalwiederkehr. Drittens: die Stufe der Nichtwiederkehr. Viertens: die Stufe der Arahatschaft. Der geistige Durchbruch zu irgendeiner der vier Stufen des Erwachens wird ,,Pfad'' (magga) genannt, und die Erkenntnis, zu der man durchgebrochen ist, ,,Frucht'' (phala).

Doll hat genau einmal länger öffentlich über den Buddhismus gesprochen, und zwar in der Publikation, die ihm, oberflächlich betrachtet, am Fernsten zu liegen scheint, der Illustrierten Bunte. Er sagte: ,,Der Buddhismus hat einen festen Platz in meinem Leben. Er hilft mir durch seine einfachen Thesen, mich in dieser westlichen Welt, in der wir alle nur so durchs Leben hetzen und keiner mehr für den anderen Zeit hat, meine Ruhephasen zu finden.''

Eine andere Illustrierte mit Namen Bestlife wollte von Doll wissen, ob er denn bald Mantras am Spielfeldrand singen werde. Das war eine sehr gewitzte Frage, und Doll sagte erwartungsgemäß: ,,Ja, ich werde bald Mantras am Spielfeldrand singen.'' Um ehrlich zu sein, hat er das nicht gesagt, er sagte überraschenderweise: ,,Keine Sorge, das passiert nicht.'' Er vollbringt sein Werk im Stillen. Und das Werk ist schon weit.

Die Stufe des Stromeintritts: Der in den Strom Eingetretene wird befreit, weil er sich nicht mehr mit der Welt identifiziert. Der Prozess der Weltablösung verstärkt sich von nun an von selbst.

Mittwoch, 13. September. Das Spiel läuft seit einigen Minuten, Champions League, Hamburg gegen Arsenal, und alle im Stadion sehen: Der HSV ist gut drauf. Das ist es, was sie sich gewünscht haben, die große Bühne. Die Stimmung auf den Rängen ist heiter. Dann bricht die zehnte Minute an. Robin van Persie stürmt auf das Hamburger Tor zu, van Persie, von dem man weiß, dass er schnell fällt.

Er legt sich den Ball vor, Torwart Sascha Kirschstein wirft sich ihm entgegen. Es gibt eine Berührung, Kirschsteins Hand und van Persies Fuß. Aber muss van Persie fallen? Van Persie fällt, Schiedsrichter Peter Fröjdfeldt gibt Elfmeter und zeigt Kirschstein die rote Karte. Zehn Minuten nur.

Bastian Reinhardt spricht bei seinen vielen Interviews nach dem Spiel wahlweise von ,,Genickbruch'', ,,Genickschlag'' oder gar ,,Genickschuss''. Das schöne Wort vom ,,Stromeintritt'' benutzt er nicht. Kirschstein trägt an diesem Abend nach dem Spiel eine Baseballkappe, um sein Gesicht zu beschatten. Er weint.

Die Stufe der Einmalwiederkehr: Der Einmalwiederkehrer hat seine Erkenntnis vertieft. Er hat nur noch eine Wiedergeburt in der Götter- oder der Menschenwelt vor sich.

Sonntag, 22. Oktober: das Spiel in Leverkusen, 2000 Hamburger Fans sind dabei und singen. Seit der 40. Minute führt Leverkusen 1:0, Voronin hat getroffen, und es sieht so aus, als würde der HSV mal wieder verlieren. Nichts deutet daraufhin, dass es anders kommen könnte. In der 69. Minute wechselt Thomas Doll einen neuen Spieler ein, er schickt Paulo Guerrero aufs Feld.

In der 70. Minute erzielt Paulo Guerrero das 1:1, in der 86.Minute schiebt er den Ball zum 2:1 ins Netz, und als der Schiedsrichter kurz danach abpfeift, hat der HSV tatsächlich gewonnen. ,,Das Ende der Plage'' schreiben die Zeitungen, in der SZ steht zu lesen: ,,Manchmal schreibt der Fußball Geschichten von biblischem Charakter. Es geht dann um Schuld und Sühne, Glaube und Erlösung.''

Es konnte ja noch niemand wissen, dass es sich nicht um eine biblische, sondern um eine buddhistische Geschichte handelt. Dass nun die Stufe der Einmalwiederkehr erreicht war und der HSV seine letzte Wiedergeburt in einem unwichtigen Spiel in der Champions League erleben sollte, das er gegen ZSKA Moskau 3:2 gewann. Doll sagt an diesem Sonntagabend: ,,Diese schwere Phase bringt mir als jungem Trainer mehr, als wenn man immer nur auf der Erfolgswelle schwimmt.'' Klar, was ist eine Erfolgswelle gegen das Nirvana?

Die Stufe der Nichtwiederkehr: Der Nichtwiederkehrende hat den letzten Rest von Sinnen-Gier und Abneigung überwunden , also alles, was ihn an die Welt der fünf Sinne fesselte. In ihm verbliebene Fesseln sind Begehren nach Dasein in den Welten feinkörperlicher und körperloser Wesen und Reste von Dünkel, Aufgeregtheit und Unwissenheit.

Samstag, 16. Dezember: das Spiel in Aachen. Nachdem Bastian Reinhardt das Eigentor erzielt hat, läuft er über den durchweichten Rasen, sein Blick sucht, Reinhardt setzt einen Fuß vor den anderen, er schaut nach unten, er schaut geradeaus, und einmal - die Fernsehkamera richtet ihren Blick allein auf ihn - hebt er den Kopf nur ein wenig, und seine Augen richten sich himmelwärts, der Regen fällt ihm ins Gesicht.

Bastian Reinhardt hat ein Gesicht, gemacht aus groben Zügen, wie hingeworfen in einer Kohlezeichnung, und nun schaut er nach oben, den Kopf immer noch nur leicht gehoben, aber die Augen sind es, die er gen Himmel dreht, die Augen sehen steil nach oben. Vielleicht denkt er nur: ,,Verdammte und immer wieder verdammte Scheiße.''

Aber wie er aussieht in diesem Moment: Wie einer, der Gott fragt, was da gerade passiert. Als er nach einer Weile wieder spricht, sagt er: ,,Ich habe mir überlegt, einen Exorzisten nach Hause zu bestellen.'' Nur könnte der gar nichts tun, denn an diesem Nachmittag in Aachen hat sich der HSV auf die Stufe der Nichtwiederkehr begeben. Doll sagt: ,,Es wird keiner dem Basti, der sich in den ganzen Spielen immer so reingeknallt hat, einen Vorwurf machen, dass ihm dieses Schicksal passiert ist.'' Natürlich nicht.

Die Stufe der Arahatschaft: Der Arahat hat die letzten Fesseln abgeworfen. Er lebt seine natürliche Lebensspanne in unerschütterlicher Ruhe zu Ende und stirbt dann den letzten Tod. Für ihn gibt es keine Wiedergeburt. Er ist für immer erlöst. Dieser Zustand wird mit Bildern beschrieben, zum Beispiel mit dem des Lotusblatts: Wie ein Tropfen Wasser, der ein Lotusblatt berührt, dieses zwar trifft, aber nicht daran hängen bleibt, so trifft alle Wahrnehmung den Arahat, bleibt aber nicht an ihm hängen.

Mittwoch, 20. Dezember: Um 13.27 Uhr verlässt Thomas Doll die Hamburger Arena, es ist nun klar, dass er Trainer des HSV bleibt. Er lächelt, er wirkt frisch, wie gereinigt. Er wirkt ruhig. All das hat ihn getroffen: Niederlagen, verletzte Spieler, rote Karten, Demütigungen, noch mehr Verletzte, vergebliche Hoffnung, neue Niederlagen, Absturz auf die Abstiegsränge, Hohn aus der Presse, schließlich das Eigentor in letzter Minute.

All das traf ihn, aber es bleibt nicht an ihm hängen. Doll lächelt, als er die Autotür aufschließt. Wer die Arahatschaft erreicht hat, wird auch ,,Asekha'' genannt. Der Begriff wird so erklärt: ,,Der, welcher nicht mehr trainieren muss, weil er die höchste Erlösung verwirklicht hat.'' Fragt sich bloß noch, was Thomas Doll und die Spieler vorhaben, wenn sie am 27. Dezember wieder zusammenkommen. Als Grund ihres Treffens haben sie angegeben: Trainingsauftakt.

© SZ vom 23.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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