Hintergrund:Auf Wiedersehen in Jeju

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DFB-Auswahl besiegt Kamerun 2:0 und steht im Achtelfinale / Beim Kartenfestival sieht Ramelow Gelb-Rot.

Philipp Selldorf

(SZ vom 12.6.02) - Zur Pause der Begegnung mit Kamerun war die Lage für Deutschlands Nationalmannschaft nicht schlecht. Sie war katastrophal. Ein zunehmend zerfallendes Ensemble voller Angst und Unsicherheit erwartete - nach Ramelows Hinausstellung - in Unterzahl einen Gegner auf dem Vormarsch. Mancher Reporter formulierte schon seine Abschiedsgrüße an Team und Trainertandem - und korrigierte sie 45 Minuten später, nachdem Deutschland den Afrikachampion 2:0 (0:0) besiegt hatte, in ein respektvolles "Auf Wiedersehen". Am Samstag auf der südkoreanischen Ferieninsel Jeju im WM-Achtelfinale gegen einen Gegner, der sich noch finden muss.

Sooo erleichtert: Stürmer Marco Bode nach seinem 1:0 gegen Kamerun. (Foto: N/A)

Pure Erleichterung

Wäre Shizuokas Stadion-Putzkolonne alsbald im Innenraum erschienen, Rudi Völler hätte wahrscheinlich jeden Einzelnen umarmt, so wie er jedem seiner Spieler, jedem Betreuer und jedem Stabsmitglied um den Hals fiel. Es war die pure Erleichterung eines Mannes, der nahe am Abgrund balanciert hatte. Hinterher war Völler so nass und verschwitzt, als ob er mitgespielt und dabei 20 Kilo verloren hätte. Am Eingang zur Kabine verteilte dann noch ein weiterer Deutscher Glückwünsche: Carsten Ramelow, der dem Unglück entgangen war, als Versager der Nation verdammt zu werden. Dabei traf ihn zwar persönliche Schuld für sein Spiel - aber auch der zweifelhafte Bann des spanischen Referees Antonio Lopez Nieto, der bei seinem grotesken Amoklauf in Gelb einen WM-Rekord aufstellte, indem er 16 Gelbe Karten austeilte.

Das Ergebnis war ein kleines Wunder, doch das überraschende Aufbäumen folgte außer dem fußballtypischen Kräfteschub für eine Mannschaft in Unterzahl, dem Zugewinn "an Kampf, Mentalität, Einstellung, unseren typischen Tugenden" (Oliver Kahn) einem klugen Plan der Trainer. In der Halbzeitpause korrigierte Völler nahezu alle Unzulänglichkeiten im System, ersetzte Jancker durch Bode - der prompt das entscheidende 1:0 erzielte (50.) - und die wacklige Abwehrformation durch eine Viererkette, in der Ziege (links) und Frings (rechts) die Außenposten besetzten, Linke und Metzelder die Innenverteidigung erledigten.

Auf einmal stimmte die Ordnung

Plötzlich hatte Deutschlands Team eine stabile Deckung und eine klare Ordnung bis in die einzige Sturmspitze, und so war es kein Widerspruch, wie Kameruns deutscher Trainer Winfried Schäfer die Niederlage begründete: "Der Knackpunkt kam mit der Roten Karte für Ramelow." Der Betroffene stimmte da im Prinzip zu: "Diesmal war es eine Initialzündung."

Mancher wollte Ramelow deshalb schon als "Spieler des Tages" feiern lassen - es wurde dann aber doch Miroslav Klose ausgezeichnet, der das 1:0 fantastisch vorbereitet und das 2:0 selbst erzielt hatte. Braucht man kaum mehr zu erwähnen: mit einem Kopfball. Das fünfte WM-Tor des seit Sonntag 24-Jährigen. "Der Trainer hat es selbst gesagt", erklärte er, "ich muss mich selbst belohnen."

Tagelang hatten sich die Beobachter die Köpfe zerbrochen, wen Rudi Völler spielen lassen würde - und dann blieb er bis auf den letzten Mann seiner Auswahl für die ersten beiden Begegnungen treu. Zumindest im Fall Jancker ließ das staunen. Er tat damit seinem Team keinen Gefallen.

Im schlimmsten Moment die Wende

Begonnen hatten die Deutschen nicht mal schlecht. Kameruns Team agierte noch fahriger als sein Gegner und ließ das Spiel geschehen. Aber es steckte keine Substanz in den deutschen Vorstößen, sie genossen eine geschenkte Überlegenheit, die mit Souveränität nichts zu tun hatte. Kameruns Angriff regte sich kaum, aber plötzlich gewaltig, als Linke mit einem Doppelfehler den Weg für Mittelfeldmann Wome eröffnete - erst Kahn stoppte mit seiner Präsenz und einem Ausfallschritt die Gefahr (20.). Vielleicht ein Schlüsselmoment. Die deutsche Mannschaft verlor nun Stück für Stück ihre Ordnung und widerlegte ihren Torwart, der doch versprochen hatte: "Nervenflattern gibt es nicht."

Und ob es das gab. Zweimal entgingen die Deutschen knapp, sehr knapp einem Rückstand, und sogar der unfehlbare Torwarttitan wirkte da ganz irdisch. Was mit Kameruns Drohungen begann, das vollendete Senor Lopez Nieto, der für sich eine Hauptrolle des Spiels vorgesehen hatte. Der Spanier begann sachte mit einer Gelben Karte für Kameruns Foe - und steigerte sich dann Aufsehen erregend. In weniger als einer Stunde hatte er schon zwölf Verwarnungen verteilt. Für die Deutschen eine zu viel: Ramelow erhielt die Strafe für ein übereifriges Tackling an der Seitenlinie (40.).

Minimalziel erreicht

Deutschland stand jetzt ohne Abwehrchef da, gegen einen schwierigen Gegner, aber vor allem gegen einen unberechenbaren Referee, der eine absurde Show als verrückter Polizist veranstaltete. Deutschlands Glück, dass er seine Willkür egalitär verteilte: Schließlich sah auch Kameruns Suffo Gelb-Rot - als Einwechselspieler! Als Tribünengast Franz Beckenbauer gefragt wurde, ob er auch verwarnt worden sei, sagte er: "Nee, ich war glücklicherweise zu weit weg."

Es war übrigens ein hitziges, aber keineswegs unfaires Spiel, das mit Shakehands und Trikottausch endete - und einem deutschen Etappensieg, der das Minimalziel markiert.

Deutschland: Kahn (Bayern München/32 Jahre/48 Länderspiele) - Linke (Bayern/32/37), Ramelow (Bayer Leverkusen28/28), Metzelder (Borussia Dortmund/21/9) - Frings (Werder Bremen/25/11), Schneider (Leverkusen/28/12) ab 80. Minute Jeremies (Bayern/28/36), Ballack (Leverkusen/25/25), Hamann (FC Liverpool/28/43), Ziege (Tottenham Hotspur/30/69) - Klose (1.FC Kaiserslautern/24/15) ab 84. Minute Neuville (Leverkusen/29/32), Jancker (Bayern/27/29) ab 46. Bode (Bremen/32/36).

Kamerun: Boukar (Samsunspor/30/51) - Wome (Bologna/23/57), Song (1. FC Köln/25/70), Kalla (Extremadura/27/61), Tchato (Montpellier/27/27) ab 53. Suffo (Sheffield/24/29) - Geremi (Real Madrid/23/52), Lauren (Arsenal London/25/25), Foe (Lyon/27/60), Olembe (Marseille/21/52) ab 64. Kome (Sumancia/22/15) - Eto'o (Real Mallorca/21/31), Mboma (Sunderland/31/52) ab 80. Job (Metz/24/37).

Tore: 1:0 Bode (50.), 2:0 Klose (79.) Schiedsrichter: Nieto (Spanien)Zuschauer: 47085Gelb-Rote Karten: Ramelow (40.), / Suffo (77.) jeweils wiederholtes FoulspielGelb: Hamann (2), Ziege (2), Ballack, Frings, Jancker, Kahn - Foe, Gerimi, Lauren, Olembe, Song, Tchato

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