Herbert Zimmermann:Prosit dem Apparat

Ein Sportreporter beschert dem Rundfunk den letzten Straßenfeger. Das Fernsehen lässt ihn kalt. Von Hans-Jürgen Jakobs

Die Sätze, die Herbert Zimmermann berühmt machten, klangen wie vor dem Krieg die Wochenschau in den Kinos. "Schäfer, nach innen geflankt. Kopfball! Abgewehrt! Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt. Tor! Tor! Tor!" Emphatisch beschrieb der Radioreporter Zimmermann im Wankdorf-Stadion, was sich da auf dem Rasen tat: Elf deutsche Außenseiter besiegten den Favoriten Ungarn, und Deutschland hatte seinen ersten großen nationalen Triumph nach 1945. 60 Millionen Deutsche hörten am Radiogerät in der ARD vom Gewinn der WM. Es war noch einmal eine große Stunde des alten Rundfunks, ein Gemeinschaftserlebnis der Hörer - doch schon im Moment des Berner Triumphes kündigte sich der Siegeszug eines anderen Mediums an: des Fernsehens.

Sepp Herberger

Sepp Herberger war 28 Jahre lang Bundestrainer.

(Foto: Foto: dpa)

Das Flimmerwesen war erst im Dezember 1952 in Deutschland eingeführt worden, und im Frühjahr 1954 waren lediglich rund 27 000 TV-Geräte angemeldet, doch die Verkaufszahlen der Saba- und Telefunken-Apparate zogen während der WM rasant an. Schließlich waren rund 80 000 Geräte im Einsatz. So drängten sich an diesem 4. Juli 1954 ganze Mannschaften von Fußballbegeisterten vor Schaufenstern, in Wohnzimmern und durchräucherten Kneipen. Sie starrten auf grießelige Bilder auf matten Scheiben und jubelten, als Helmut Rahn endlich schoss.

Drei bis fünf Deutsche Mark hatten die Fans in den Gastwirtschaften als Eintrittsgeld für das frühe Pay-TV entrichtet, Verzehr wurde angerechnet. Insgesamt dürften 1,5 Millionen bis zwei Millionen Deutsche den WM-Erfolg im Fernsehen erlebt haben. "Nicht auszudenken, was wäre, wenn plötzlich der Apparat versagte", schrieb die Kölnische Rundschau am 5. Juli in einer Reportage aus einer WM-Kneipe: "Aber niemand denkt daran. Der Glaube an den Apparat ist groß! Unerschütterlich! Ein Prosit dem Apparat auch. Dem Apparat, der den Augenblick nicht enteilen lässt."

Die Augenblicke enteilten sehr wohl. Damals gab es noch keine Aufnahmetechnik, so dass die Sender ihre Spiele nicht archivieren konnten. Im Wankdorf-Stadion aber saßen Amateurfilmer, deren Produkte zum Dokument der WM werden sollten. Unterlegt wurden die Bilder später mit dem legendären Radio-Kommentar Zimmermanns - eine Technik, die am 4. Juli 1954 auch manche Besitzer von TV-Apparaten genutzt hatten, darunter Wirte der Fernsehkneipen. Originalbilder aus dem TV gemixt mit Zimmermanns Wortgehagel aus dem Dampfradio - das galt als Geheimtipp. Leitmedium war in jenen Tagen nun einmal der Hörfunk.

Vier Radioreporter hatte die ARD 1954 in die Schweiz geschickt: Zimmermann und Kurt Brumme vom damaligen NWDR aus Köln, Gerd Krämer vom Süddeutschen Rundfunk sowie Rudi Michel vom Südwestfunk. Für das Fernsehen war nur Bernhard Ernst aus Köln exklusiv aufgeboten worden. Er kommentierte Bilder, die von nur zwei Kameras eingefangen wurden. Mancher wichtige Pass oder Schuss blieb unentdeckt.

Prosit dem Apparat

Da Fußball im frühen Nachkriegsdeutschland bei vielen gesellschaftlichen Größen noch als Proletensport galt, mussten die Sportchefs in der ARD um Live-Übertragungen kämpfen. Kurzberichte von den WM-Spielen ohne deutsche Beteiligung wurden zwischen 21.45 und 22.30 Uhr im Radio gesendet. Auch der Einsatz des später als Quizmaster ("Was bin ich?") bekannt gewordenen Robert Lembke, der die journalistische ARD-Expedition leitete, änderte nichts daran, dass anfangs von den Begegnungen der Deutschen nur die zweite Hälfte live im Hörfunk übertragen wurde.

Nur durch Zufall beim Endspiel

Der DDR-Rundfunk übertrug die Spiele in voller Länge, und das war den kulturbeflissenen medienpolitischen Funktionären der Adenauer-Zeit mitten im Kalten Krieg dann auch nicht recht. Also lief das dritte WM-Spiel der Deutschen (Gegner: Türkei) im Radio auch über 90 Minuten. Freilich setzte die ARD bezeichnenderweise zum Finale erst ein, als das Spiel schon eine Minute lief.

"Schlechtes Abspiel von Liebrich soeben. Und Ungarns Sturm. Kocsis müsste schießen! Nachschuss Puskas! Tor!" Zimmermann war Zeremonienmeister bei einer Sendung, die zum letzten Straßenfeger des deutschen Rundfunks werden sollte. Der Sportreporter saß an diesem Tag nur per Zufall am Mikrofon, nachdem er den Einsatzplan vor dem Turnier mit Kurt Brumme per Münzwurf entschieden und dabei vermeintlich verloren hatte, weil Brumme den Einsatz beim für wichtig erachteten Spiel Deutschland - Türkei gewann.

Und nun kommentierte dieser Zimmermann, wie er es 1943 bei seinem Idol Rolf Wernicke gelernt hatte. Wernicke war Chefsprecher der Wochenschau und hatte im "Dritten Reich" nicht nur bei Sportereignissen gewirkt - sondern hatte auch zu 150 "Führer"-Reportagen anlässlich von Reichsparteitagen gesprochen. 1952 wurde Wernicke Sportchef beim Hessischen Rundfunk. Zimmermann ließ die Schweizer Fußball-Schlacht mit dahin gepressten Sätzen lebendig werden. "Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern. Keiner wankt. Der Regen prasselt unaufhörlich nieder..." Turek, der Toni, wurde zum "Teufelskerl", zum "Fußballgott", eine angeblich "blasphemische" Bezeichnung, für die sich Zimmermann beim Intendanten entschuldigen musste.

Der Ritterkreuzträger, der in Ostpreußen sechs russische Panzer abgeschossen hatte, liebte sein Medium Radio und mochte sich einen Breitenerfolg des Fernsehens überhaupt nicht vorstellen. Schließlich hat Zimmermann selbst während der WM am 17. Juni 1954 fürs Fernsehen das Spiel England gegen Belgien kommentiert. Der Reporter sprach gewissermaßen in die Leere des Weltalls hinein. Damals befand sich die Eurovision der öffentlichen Sender aus Belgien, Niederlande, Frankreich, Italien, Dänemark, England sowie Deutschland (West und Ost) in der Erprobungsphase.

Als es nun zwischen Engländern und Belgiern 3:3 stand und eine Verlängerung nötig wurde, hatte Zimmermann für den TV-Kommentar keine Zeit: Er musste ja seinen angemeldeten Rundfunkbericht sprechen. Statt einer Zusammenfassung des Spiels lieferte Zimmermann den Hörern eine Live-Radioreportage von der Verlängerung. Die deutschen TV-Zuschauer aber mussten ohne Sprecher auskommen: Stumm-Fernsehen, eine Arabeske aus der Gründerzeit des Massenmediums. In der 2004 erschienenen Biografie "Die Stimme von Bern" hat Autor Erik Eggers einige solcher Anekdoten rund um den 1966 gestorbenen Herbert Zimmermann aufgeführt.

Am Tag des Endspiels waren im Schnitt bis zu 20 Personen vor einem Fernseher versammelt. "Es scheint, dass von Seiten der Fernsehteilnehmer alles getan wurde, um zahlreichen Menschen die Gelegenheit zu geben, die Übertragung zu sehen", analysierte der NWDR danach. Der Marktanteil des TV-Hits lag in Nord-rhein-Westfalen bei 96 Prozent. Das Wunder von Bern begann, und wir waren Helden.

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