Handball:Revoluzzer im Ruhestand

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Stefan Kretzschmar wächst allmählich in seine Aufgaben als Sportdirektor der Magdeburger Handballer hinein. Im Businessoutfit sieht man ihn deshalb trotzdem noch nicht.

Ronny Blaschke

Es fehlt jemand, und so lange dieser jemand nicht da ist, kann die Ehrung nicht beginnen. "Stefan, kommst du?", ruft der Hallensprecher in sein Mikrofon. Es ist kurz nach acht, gleich sollen die Mannschaften einlaufen. Doch erst kommt er: Stefan Kretzschmar tritt aus dem Kabinengang, geht mit raumgreifenden Schritten über das Spielfeld, 4000 Zuschauer beobachten ihn. Er schnappt sich einen Blumenstrauß, reicht ihn weiter an einen Mann, schüttelt Hände, lächelt in eine Kamera, winkt ins Publikum, anschließend geht er den Weg zurück. Kretzschmar ist noch immer die bekannteste Figur des SC Magdeburg, dabei hat er seine aktive Laufbahn im vergangenen Jahr für beendet erklärt, ein für allemal.

Dieses legendäre Bild zeigt Stefan Kretzschmar bei seiner Verabschiedung vom aktiven Profisport - der Job am Schreibtisch scheint gewöhnungsbedürftig. (Foto: Foto: ddp)

Zwei Stunden später beginnt das Gespräch mit einem Scherz. Ob er das Spiel noch vermisse? "Nein, das ist abgeschlossen", sagt er und blickt hinab auf seinen Körper, sechzehn Jahre auf dem Parkett seien genug. "Ich könnte dem Team nicht helfen, in meiner jetzigen Form könnte ich niemandem helfen." Stefan Kretzschmar, 35, ist jetzt Sportdirektor, einer, der ohne Sakko und Krawatte auskommt, auskommen will. Er hat einmal gesagt, die am schicksten gekleideten Leute hätten die größten Probleme. An diesem Dienstagabend trägt er Jeans, T-Shirt, Sportschuhe, seine langen, schwarzen Haare hängen herunter, ungefärbt, unbearbeitet, so schlicht hat er sie früher nie getragen.

Äußerlichkeiten haben in der Karriere des Spielers Kretzschmar eine wichtige Rolle gespielt. Kaum jemand im deutschen Sport konnte seinen Ruf so gut steuern wie er. Tätowierungen, Ohrringe, eine düstere Musiksendung, eine eigene Kneipe, eine Abmahnung seines Arbeitgebers, eine Demo gegen Pelzmäntel, kurz: stete Unangepasstheit. Die Öffentlichkeit erhob Kretzschmar zum Popballer, zum Provokateur, zu jemandem, den Werbestrategen gern als Marke bezeichnen. Wer ihm aber nun gegenüber steht, sieht einen aufgeräumten Mann, der Unterschiede herausarbeitet zwischen Image und Wirklichkeit, und der seine Argumente in der Zukunft sucht - obwohl er in Magdeburg vor allem als Botschafter der Vergangenheit gebraucht wird.

Der Sprecher einer Wir-AG

Der SCM, Gewinner der Champions League 2002, hatte sich dank seines einstigen Managers Bernd-Uwe Hildebrandt in einen Kriminalfall verwandelt. Steuerhinterziehung, Missbrauch, Untreue, mehrmals stand der Klub vor der Insolvenz. Die besten Spieler gingen, nur Talente wie Torhüter Silvio Heinevetter, Christoph Theuerkauf oder Yves Grafenhorst blieben. Sie halten die Identifikation der Fans mit ihrem Verein aufrecht, doch die Konkurrenz lockt. Verkümmert der SCM zu einem Ausbildungscamp?

Stefan Kretzschmar will das verhindern, er schlägt die letzte Brücke in eine goldene Generation. So lange er noch da ist, wissen die Magdeburger, dass die vielen Erfolge nicht bloß ein Traum waren. Er hat nun neben Transferorganisation und Trainingsunterstützung ein weiteres Amt: Vertrauensbeauftragter. Am Dienstag läuft er quer durch die Bördeland-halle, er redet viel, sucht Kontakt. Während des Spiels gegen Göppingen (28:24) sitzt er auf der Bank, motiviert, applaudiert, kritisiert den Schiedsrichter. "Als Spieler war ich Eigenbrötler und egoistisch. Jetzt trage ich für mehrere Leute Verantwortung." Aus der Ich-AG ist der Sprecher einer Wir-AG geworden.

Kretzschmar ist sich seiner Aufgabe bewusst, das Leben jenseits der Seiten- linien ist nicht leichter geworden. Er musste lernen, was er nie lernen wollte: Kompromissbereitschaft. "Als Spieler musste ich auf niemanden Rücksicht nehmen. Das ist nun anders", sagt er. "Ab und zu muss ich einen Pakt mit dem Teufel eingehen, mit Beratern oder Managern, die ich nicht leiden kann." Für den Boulevard würde das wunderschöne Schlagzeilen hergeben: "Handballpunk ganz zahm." Oder: "Das Kind wird erwachsen." Moment mal - Stefan Kretzschmar merkt, dass er seine Sätze so nicht stehen lassen kann: "Ich bin reifer geworden, aber ich lasse mich nicht zum Bückling machen. Man benutzt selbst und man wird benutzt. Aber nur bis zu einem bestimmten Punkt."

Ausgelastet bis Dezember

Kretzschmar will den Mittelpunkt verlassen, er schützt sein Privatleben, eine Lehre aus der gläsernen Beziehung mit der Schwimmerin Franziska van Almsick. Das Rampenlicht möchte er lieber den Spielern überlassen, aber so einfach ist das nicht, berichtet Ciz Schönberger, seine Managerin seit bald dreizehn Jahren. Sie wundert sich, warum der WM-Sieg des deutschen Teams 2007 keinen Star hinterlassen hat, keinen zweiten Kretzschmar. "Dem Handball fehlen Persönlichkeiten", sagt sie. "Die meisten Spieler würden als Versicherungsvertreter durchgehen." Am kommenden Montag erscheint Kretzschmars Autobiographie, der Titel: "Anders als erwartet". Bild druckt vorab Auszüge, seitenlang. Bis Anfang Dezember ist Kretzschmar mit Interviews ausgelastet. Die Republik scheint immer noch sehr interessiert zu sein an einem Revoluzzer, der gar kein Revoluzzer mehr sein will.

Ciz Schönberger freut sich darüber, aber nicht ausnahmslos. Mit Bob Hanning hatte sie eine Auseinandersetzung, der Manager der Füchse Berlin hatte Gerüchte um einen Wechsel Kretzschmars in die Hauptstadt lanciert. "Wir haben uns benutzt gefühlt." Kretzschmar will in Magdeburg bleiben. "Loyalität ist mir wichtig. Doch ohne die Unterstützung der Fans würde ich gehen. Man möchte schließlich gebraucht werden." Er erzählt von einer Umfrage der Magdeburger Volksstimme aus dem Jahr 1999. Soll Kretzschmar bleiben, wurden die Leser damals gefragt: Nur 51 Prozent entschieden sich für ihn. Er wird diese Zahl nicht vergessen, so niedrig war sie danach nie wieder.

© SZ vom 09.10.2008/JBe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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