Handball-Nationalmannschaft:Gerissene Sehne, Brüche im Gesicht, Blut im Muskel

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Handball-Bundestrainer Heiner Brand gehen kurz vor der Weltmeisterschaft im eigenen Land die Spieler aus - Diagnose einer lädierten Mannschaft.

Christian Zaschke

Die Verletzungsmisere der Handball-Nationalmannschaft hat sich so weit entwickelt, dass es mittlerweile grotesk wirkt. Zum Vergleich muss man sich vorstellen, dass kurz vor Beginn der Fußball-WM zehn Feldspieler verletzt wären, und zwar diejenigen, die spielen sollen.

Frisch verletzt: Torsten Jansen (Foto: Foto: dpa)

Einer nach dem anderen haben sich die Handballer verletzt, und nun, zehn Tage vor Beginn der Heim-WM (19.Januar - 4. Februar), hat es in einer nachgerade unheimlichen Serie auf jeder Position bis auf den Torwart die erste Besetzung erwischt. Was nun? Die Verletzten und die Alternativen:

Linksaußen: Torsten Jansens (HSV Hamburg) Blessur ist noch ganz neu, er hat sie sich am Samstag im Testspiel gegen Ungarn zugezogen. Es handelt sich um eine Muskel-Einblutung im linken Oberschenkel. Jansen ist ein erfahrener und wichtiger Spieler. Er stand lange im Schatten von Stefan Kretzschmar (SC Magdeburg), der auf Linksaußen unumstritten war.

Beim EM-Sieg 2004 spielte jedoch Jansen, weil Kretzschmar verletzt war, und er spielte gut. Seit Kretzschmars Rücktritt aus der Nationalmannschaft nach Olympia 2004 ist Jansen auf Linksaußen die Nummer eins. So bestand im Team nie Bedarf nach einem Comeback von Kretzschmar, und Bundestrainer Heiner Brand hatte am Ende sogar Sorge, er würde die gewachsene Struktur zerstören, wenn er Kretzschmar nominierte. Alternative zu Jansen ist derzeit allein Dominik Klein (THW Kiel). Oder Kretzschmar, wenn Brand ihn nun doch noch nachnominiert.

Linker Rückraum: Oleg Velyky (SG Kronau-Östringen) hat Mitte Dezember einen Innenbandriss im linken Sprunggelenk erlitten. Er wurde konservativ behandelt, mit einem Gips. Mittlerweile ist der Gips ab, aber Velyky hat beim Gehen Schmerzen, was daran liegt, dass eine Sehne in der Fußsohle angerissen ist.

Schon länger verletzt: Oleg Velyky (Foto: Foto: AP)

Mannschaftsarzt Ulrich Dobler sagte am Montag: "Es wäre ein kleines Wunder, wenn Oleg bis zur Vorrunde fit würde. Mit viel Glück bekommen wir ihn bis zur Hauptrunde hin." Im Trainingslager am Ammersee wird Velyky mit Medikamenten behandelt und verbringt täglich viel Zeit beim Physiotherapeuten.

Bei der EM 2000 stand Velyky im Kader der Ukraine und wurde Torschützenkönig. Seit 2004 ist er Deutscher, seit 2005 eine Größe im Team. Einzig gleichwertiger Ersatz ist Pascal Hens (Hamburg), doch kann der nicht das ganze Turnier durchspielen. Lars Kaufmann (HSG Wetzlar) und Michael Hegemann (TBV Lemgo) sind gute Handballer, aber für das ganz hohe Niveau reicht es noch nicht. Wahrscheinlich wird Brand Velyky für die Vorrunde nicht nominieren. Zur Hauptrunde darf er zwei Spieler seines Kaders tauschen. Wird Velyky fit, rückt er nach.

Rückraum Mitte: Markus Baur (TBV Lemgo) leidet seit Beginn des Trainingslagers am Ammersee an einer Oberschenkelblessur. Das ist bitter, weil sich Baur erst beim World Cup im Oktober nach langer Verletzungspause wieder ins Team gespielt hatte. Er machte das so eindrucksvoll, dass er sofort zum unumstrittenen Chef der Mannschaft wurde, wie vor der langen Verletzungszeit.

Rechtsaußen Florian Kehrmann (Lemgo) sagt über ihn: "Markus ist der Kopf des Teams und spielt alle taktischen Dinge wie im Schlaf durch. Auf dem Weg zu einem Erfolg bei der WM gehört er zu den Schlüsselspielern." Das Problem ist, dass Baur, der Spielmacher, sich nun mit der Mannschaft einspielen müsste. Zum Beispiel mit Velyky; die beiden kennen ihre jeweilige Spielweise nur von Video-Analysen. Und natürlich mit den anderen, die Baur zwar kennt, mit denen er aber nun an Feinheiten arbeiten müsste.

Alternativen zu Baur gibt es nicht. Auf seinem Niveau könnte am ehesten Velyky als Mittelmann spielen. Der talentierte Michael Kraus (FA Göppingen) ist eine Bereicherung, aber vor allem, um Baur zu entlasten; er kann das Spiel noch nicht alleine leiten. Michael Haaß (SG Kronau-Östringen) fehlt die Erfahrung. Was bedeutet: Baur muss gesund werden, sonst kann die WM für die Deutschen ein sportliches Desaster werden.

Kreis: Andrej Klimovets (SG Kronau-Östringen) hat sich im Testspiel gegen Ungarn eine Muskelverletzung im Oberschenkel zugezogen. Der gebürtige Weißrusse spielt seit Oktober 2005 für die deutsche Mannschaft. Er füllt das Vakuum, das der Rücktritt Christian Schwarzers (TBV Lemgo) nach Olympia 2004 zurückgelassen hatte. Zudem ist er ein starker Verteidiger im Mittelblock.

Die anderen Verteidiger für den Mittelblock wären Oliver Roggisch (SC Magdeburg) und Sebastian Preiß (TBV Lemgo), die im Angriff ebenfalls als Kreisläufer agieren - jedoch wurde bei Preiß am Montag ein Einriss in der Wadenmuskulatur diagnostiziert. Brand könnte nun auf Schwarzer zurückgreifen, der im Notfall für ein Comeback bereitsteht.

Doch Schwarzer spielt defensiv nicht im Mittelblock. Brand hätte also ohne Klimovets und Preiß nur noch einen halben Mittelblock (Roggisch). Es nützte auch wenig, wenn nur einer gesund würde, denn man steht ein Turnier nicht mit lediglich zwei Mann für den Mittelblock durch.

Rückraum rechts: Holger Glandorf (HSG Nordhorn) erlitt Mitte Dezember mehrere kleine Brüche im Gesicht. Er wurde in den Testspielen gegen Ungarn geschont. Glandorf hat sich zuletzt in der Bundesliga zu einer Tormaschine entwickelt. Gedacht war, dass er im Wechselspiel mit Christian Zeitz (THW Kiel) für Unberechenbarkeit auf der rechten Seite sorgen sollte.

Zeitz und Glandorf ergänzen einander gut. Glandorf ist eher das, was man im Handball einen "Shooter" nennt: ein Mann, der hochsteigt und den Ball ins Tor wuchtet. Für einen Spieler wie Zeitz gibt es im Handball keinen Namen, er spielt unorthodox und wirft aus seltsamen Positionen seltsame Tore.

Spielt er in Form, ist er nicht zu bremsen. Doch manchmal verlässt ihn die Form, und dann ist es besser, wenn der verlässliche Glandorf spielt und dann und wann ein Tor erzielt. Ohne Glandorf wäre diese wunderbare Balance verloren; und das deutsche Spiel wäre ärmer.

Rechtsaußen: "Ich habe sofort gemerkt, dass da was kaputt ist", sagte Florian Kehrmann (TBV Lemgo) nach dem Testspiel gegen Schweden im November. Er hatte nach elf Minuten einen Sprungwurf angesetzt und war mit seiner linken Hand an seinem schwedischen Gegenspieler abgeprallt. Die Untersuchung im Krankenhaus ergab: Mittelhandbruch.

Seitdem hat Kehrmann sehr gute Fortschritte gemacht, er hat sogar schon wieder ein Spiel für den TBV Lemgo bestritten. In Ungarn hat Brand seinen Rechtsaußen lieber geschont. Das liegt daran, dass Kehrmann der vielleicht einzige Mann im Kader ist, der im Zenit seines Könnens steht und in guten Partien auf seiner Position auf Weltklasse-Niveau spielen kann. Zu ersetzen ist Kehrmann nicht, auch wenn die einzige Alternative, Stefan Schröder aus Hamburg, sich zuletzt recht gut entwickelt hat. Aber Kehrmann wird wohl bis WM-Beginn fit.

Nicht verletz, dafür verunsichert: Henning Fritz (Foto: Foto: AP)

Tor: Henning Fritz (THW Kiel) ist zum Glück nicht verletzt. Doch der Mann, der bei Olympia 2004 ,"Der unglaubliche Fritz" geworden war (und später Welthandballer des Jahres), geht durch schwere Zeiten. Im Verein ist er meist dritte Wahl hinter Thierry Omeyer und Mattias Andersson. Daher fehlt ihm das Selbstbewusstsein, und die Frage ist nun, ob er es sich in den verbleibenden Tagen holen kann, um wieder in Form zu kommen.

Sein Vertreter Johannes Bitter (SC Magdeburg) ist gesund und gut drauf, was als kleine Sensation gelten kann. Der dritte Torwart, Carsten Lichtlein (TBV Lemgo), ist derzeit angeschlagen.

So viel Verletzungspech hatte die stets von Verletzungspech gebeutelte Mannschaft noch nie. "Ich mache mir schon einige Sorgen", sagt der stets ruhige Brand, und das ist das deutlichste Zeichen dafür, dass es derzeit wirklich nicht gut aussieht.

© SZ vom 9.1. 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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