Handball-Nationalmannschaft:Ein Schatz wird geraubt

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Die Handball-Nationalmannschaft verabschiedet fünf ihrer Stammkräfte und ist künftig wieder Außenseiter.

Von Ronny Blaschke

Kiel - Es war fast Mitternacht, als sich die Kieler Ostseehalle leerte, die Lichter erloschen. Anderthalb Stunden war es nun her, dass die erfolgreichste Ära des deutschen Handballs seit zwanzig Jahren beendet war.

Stefan Kretzschmar, Magnus Wilander aus Schweden, Volker Zerbe, Staffan Olsson aus Schweden, Mark Dragunski, Klaus-Dieter Petersen und Christian Schwarzer (von links) bei der Verabschiedung aus dem Nationalkader nach dem Freundschaftsspiel gegen Schweden. (Foto: Foto: AP)

Noch verharrte das donnernde Geräusch des Applauses im Gehörgang, noch reagierten die Augen gereizt auf grelles, flackerndes Licht. Ungefähr eine Million Mal werden die 10.280 Zuschauer und 20 Fotografen ihre Kameras betätigt haben, es hatte öfter geblitzt als in einer Diskothek pubertierender Technojünger.

Und so riss Henning Fritz, 30, Torwart des deutschen Teams, seine Augen weit auf, überwältigt vom Erlebten suchte er nach einem Gedanken, der in die Zukunft wies: "Wir sind keine Favoriten mehr", sagte er, "wir sind wieder Außenseiter, und ich bin einer der Ältesten."

Was für eine Erkenntnis. Die deutschen Medaillen-Abonnenten, in diesem Jahr Europameister und später in Athen mit Olympiasilber dekoriert, Finalisten der vergangenen vier großen Turniere, müssen sich wieder in der Warteschlange einreihen. Niemand hatte das bezweifelt, aber wahrhaben wollten dies trotzdem nur wenige. Zumindest nicht im Moment der Trennung.

Euphorisch waren Klaus-Dieter Petersen (Kiel/340 Länderspiele), Christian Schwarzer (Lemgo/302), Volker Zerbe (Lemgo/292), Stefan Kretzschmar (Magdeburg/218) und Mark Dragunski (Gummersbach/117) bei ihren letzten Würfen für die Nationalmannschaft beklatscht worden, 31:32 (19:18) ging das Abschiedsspiel verloren - gegen die Schweden, die Magnus Wislander und Staffan Olsson, langjährige Mitarbeiter des THW Kiel, in den Ruhestand schickten.

"Lücke in meinem Leben"

Sechzig Minuten dauerte der Handball-Klassiker, achtzig Minuten währte die begleitende Zeremonie des Abschieds. Stefan Kretzschmar, der Linksaußen, der weiterhin in der Bundesliga auftreten wird, sprach "von extremer Melancholie. Wer weiß, ob es sportlich jemals wieder so schön wird. Die Nationalmannschaft hinterlässt eine große Lücke in meinem Leben."

Lücke - kein Wort wurde in Kiel häufiger benutzt. Vor allem von Heiner Brand, dem Bundestrainer. Als sich das Team vor dem Anpfiff im großen Kreis einschwor, näherte er sich schüchtern von der Seite, die Vergänglichkeit des Augenblicks war ihm bewusst.

Mehr als die Hälfte der Spieler seiner Stammformation sind nun gegangen, der Erfahrungsschatz einer Gruppe wurde geraubt, deren Gedächtnis gelöscht.

"Die Mannschaft kam meinem Ideal sehr nahe", sagte Brand. Er sprach wie ein Oberstufenlehrer, dessen lieb gewonnene Klasse nach dem Abitur zerfällt.

Seit sieben Jahren ist Brand jetzt Bundestrainer. Er musste oft aus einem Gewusel eine Gemeinschaft formen, jetzt sagt er: "Ich habe schon schwierigere Situationen bewältigt." Viel Zeit für die Lösung der neuen Aufgabe bleibt ihm allerdings nicht.

Kein Testlauf in Tunesien

Im Januar 2005 wird in Tunesien die nächste WM ausgetragen. Brand weigert sich, das Turnier zum Testlauf zu degradieren. Bei Olympia in Athen war das deutsche Team noch das drittälteste, mit acht Ü30-Spielern.

Das wird sich ändern. In Daniel Stephan, Markus Baur, Florian Kehrmann, Christian Zeitz, Pascal Hens, Frank von Behren, Henning Fritz und Torsten Jansen ist mehr als nur ein Fundament im mittleren Alter vorhanden.

Zudem sollen Vertreter der Generation Rasselbande wie Yves Grafenhorst (SC Magdeburg), Sebastian Preiß (TKW Kiel), Lars Kaufmann (Concordia Delitzsch), Tobias Schröder (TuS Nettelstedt-Lübbecke) oder Jens Tiedtke (SG Wallau-Massenheim) gefördert werden.

Der Nachwuchs weckt Hoffnung, die deutschen Junioren wurden 2004 Europameister. Trotzdem sagt Brand: "Wir müssen Geduld haben, das Niveau der vergangenen Jahre werden wir so schnell nicht wieder erreichen."

Er ahnt, dass er Zeit seines Lebens keinen besseren Kreisläufer als Christian Schwarzer und keinen sichereren Mittelblock als Volker Zerbe und Klaus-Dieter Petersen finden wird. Damit muss er sich abfinden.

Drei Jahre verbleiben bis zur WM in Deutschland. Brand steht unter einer Erwartungshaltung, die er selbst geweckt hat, denn die Männer an der Harz-verklebten Kugel sind wieder populär geworden.

Der Handball ist den Turnhallen entwachsen, hinein in die protzigen Multifunktionsarenen. Dort soll er bleiben. Ulrich Strombach, Präsident des DHB, verkündete in Kiel, dass finanzielle Probleme des Verbandes durch die Verlängerung mit dem Hauptsponsor und dem Gewinn von zwei weiteren Geldgebern gelöst seien.

Reisen mit Wiederkehr

Es herrsche wieder Planungssicherheit. Neben Strombach saß Hassan Moustafa, Präsident der Internationalen Handball Federation. "Wenn der deutsche Handball gesund ist, geht es auch dem Welthandball besser", sagte er. Heiner Brand nickte zustimmend.

Die Fünf, die gingen, bekamen zum Abschied einen Gutschein für eine Kreuzfahrt. Das sind Reisen mit Wiederkehr. Ein Geschenk als Symbol?

Ausschließen mag auch Brand nicht, dass der Rücktritt für manch einen womöglich erst die Chance eröffnet, irgendwann ein Comeback zu wagen.

© SZ vom 21.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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