Goldener Samstag:Luxusstress

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Kühner als die kühnsten Träume: Die Kanuten krönen ihre exzellente Ausbeute durch einen herausragenden Tag in der Lagoa de Freitas: vier Rennen, vier Medaillen, darunter zweimal Gold.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Der Deutsche Olympische Sportbund hat bekanntlich gute Kontakte zum IOC-Boss. Vielleicht sollte er dort mal beantragen, dass künftig noch mehr Sportarten in Booten ausgetragen werden. Boot fahren, das können die Deutschen nämlich wie keine andere Nation. Vermutlich wären sogar die wieder einmal medaillenlosen Schwimmer in Rio konkurrenzfähig gewesen, wenn es erlaubt wäre, beim Kraulen ein Stechpaddel mitzuführen. Und womöglich hätten auch die deutschen Fechter etwas gewonnen, wenn man sie zum Fechten in ein Kanu setzen würde. Aber so weit reicht wahrscheinlich nicht einmal der Einfluss von Thomas Bach, dem Herrn der Ringe.

Die deutschen Kanuten jedenfalls sind seit Jahrzehnten die fleißigsten Medaillensammler unter den deutschen Sommersportverbänden. Zu sagen, sie hätten in Rio ihre ohnehin sehr hohen Erwartungen erfüllt, wäre aber noch untertrieben. Sechs Medaillen sollten es werden. Es wurden sieben, darunter vier goldene. Abgesehen von den Ersatzleuten nehmen alle elf Athleten, die in der Lagoa Rodrigo de Freitas in Wasser gingen, mindestens eine Plakette mit nach Hause. "Da kann man nicht meckern", bilanzierte der Verbandspräsident Thomas Konietzko mit einem Lächeln im Gesicht, das gewiss noch den Cristo Redentor oben auf dem Berg blendete. Damit keine Missverständnisse aufkommen, fügte Konietzko ironiefrei an: "Nicht in den kühnsten Träumen hätten wir mit solch einem Ergebnis gerechnet."

Die Athleten zwingen den Verbandspräsidenten zu Höchstleistungen

Es hatte sich bereits unter der Woche angedeutet, dass dieses Ergebnis nicht ganz schlecht werden würde - außergewöhnlich gut wurde es aber erst an diesem Samstag. In chronologischer Reihenfolge kam die deutsche Medaillenschwemme so zustande: Ronald Rauhe gewann Bronze im Kajak-Sprint, Sebastian Brendel und Jan Vandrey holten Gold im Canadier-Zweier und der Kajak-Vierer der Frauen paddelten zu Silber, kurz bevor der Kajak-Vierer der Männer noch eine weitere Goldmedaille abräumte. Das alles ereignete sich in weniger als 90 Minuten. Während die einen zum Podium eilten, um ihren Preis abzuholen und die anderen Siegerinterviews gaben, rauschte im Hintergrund schon wieder das nächste erfolgreiche Boot über die Ziellinie.

Konietzko konnte einem bisweilen leidtun. Immer wieder sah man ihn quer über das Gelände sprinten, weil er versuchte, alle Rennen und alle Siegerehrungen mit deutscher Beteiligung von der Tribüne aus zu verfolgen, bei jedem Abspielen der Hymne andächtig zuzuhören, gleichzeitig aber auch alle Gewinner einmal am Bootssteg um den Hals zu fallen. Und zwischendurch musste er ja auch noch vor Kameras und Schreiblöcken das Geheimnis des deutschen Kanusports erklären. Am Ende wirkte er abgekämpft, als ob er selber zwei Mal über den See gepaddelt wäre. Deutschland im Medaillenstress.

Doppelsieger Brendel trägt die deutsche Fahne bei der Schlussfeier

Konietzko sagte übrigens: "Unser Geheimnis ist kein Geheimnis. Wir arbeiten fleißig, bodenständig und trainieren hart." Das gilt gewiss auch im Fall von Sebastian Brendel, 28, den sie jetzt nicht ganz grundlos den "König der Kanuten" nennen. Er hatte am Dienstag bereits seinen Olympiasieg aus London im Canadier-Einer verteidigt. Im Zweier mit Jan Vandrey, 24, stellte er am Samstag allerdings auch unter Beweis, dass man auch mit erstaunlich wenig gemeinsamem Training Gold holen kann. Es war überhaupt erst das zweite Mal, dass dieses Duo in einem Wettkampf zusammen im Kanu saß. Brendel sagte: "Wir hatten vor drei Monaten noch gar nicht damit gerechnet, dass wir hier einen Zweier an den Start schicken." Auch im Training lag der Fokus komplett auf dem Einer. Ein bis zwei Mal die Woche trafen sich die beiden Brandenburger, um gemeinsam zu üben. "Wir wollten hier eigentlich nur mitfahren", berichteten die beiden. Am Ende lagen sie eine halbe Länge vor allen anderen Konkurrenten. Wie geht sowas? Vandrey sagte mit Blick auf den Dreifacholympiasieger, der neben ihm stand: "Er kann's auf jeden Fall. Ich musste halt mitziehen."

Sebastian Brendel, der auch schon fünf Mal Weltmeister war und im Einer seit 2013 ungeschlagen ist, verkörpert im Moment wie kein anderer den Erfolg des deutschen Kanusports. Am Sonntag darf er zur Belohnung die deutsche Fahne bei der Schlussfeier tragen. Sein Gesamtfazit? "War wieder mal eine gute Saison." Der Rest der Welt darf das durchaus als Drohung verstehen. Brendel will noch ein paar gute Saisons dranhängen.

Bei Max Hoff, 33, und Ronald Rauhe, 34, kann man sich da nicht so sicher sein. Die beiden Veteranen im deutschen Team sahen am Samstag von allen am glücklichsten aus, wohl auch deshalb, weil sie wussten, dass sie gerade ihre letzten olympischen Rennen mit Medaillen veredelt hatten. Der Vierer-Olympiasieger Hoff brach mehrfach in Tränen aus, er sagte: "Ich lerne mich gerade ganz neu kennen." Im Kajak-Einer am Dienstag war er noch weit abgeschlagen ins Ziel gekommen, weil sich sein Paddel kurz nach dem Start in herumschwimmenden Blättern verfangen hatte. Es war eine der wenigen sportlichen Enttäuschungen für die deutschen Kanuten in Rio. Aber wie das eben oft so ist: Aus dem Scheitern ergeben sich die schönsten Siege. Einige der Kollegen kennen dieses Gefühl ja gar nicht mehr. Im Vierer saßen neben Max Hoff und Tom Liebscher auch Marcus Groß und Max Rendschmidt. Die beiden hatten schon am Donnerstag nach der Zweier-Konkurrenz ganz oben auf dem Treppchen gestanden.

Die zweifellos schönste Geschichte an diesem goldenen Samstag spielte sich aber rund um die Bronzemedaille des Berliners Ronald Rauhe ab. Er war im Kajak-Sprint auf die Tausendstel zeitgleich mit dem Spanier Saul Craviotto ins Ziel gekommen. Gibt's denn sowas? Scheinbar schon. Auf der Anzeigetafel blinkte der Name Rauhe zunächst aber auf Rang vier. "Da war der Ronny natürlich erst mal pappsatt", berichtete Max Hoff, der den Zieleinlauf vom Steg aus verfolgt hatte. Es handelte sich übrigens um denselben Craviotto, der Rauhe bei den Spielen in Peking 2008 schon einmal um neun Hundertstel geschlagen hatte. Tatsächlich hatten die unbestechlichen Uhren auch diesmal einen Vorsprung von drei Zehntausendsteln für den Spanier gemessen. Im Regelwerk heißt er aber eindeutig, dass Zehntausendstel nicht berücksichtigt werden. Wenig später korrigierten die Kampfrichter die Anzeigetafel. Es gibt jetzt also zwei Bronzemedaillengewinner. "Ich habe das jetzt 20 Jahre mit viel Spaß gemacht", sagte Rauhe, in Tränen aufgelöst: "Diese kleine Emotionsachterbahn ist ein krönender Abschluss in meinem letzten Rennen."

Das mit der Emotionsachterbahn passt überhaupt ganz gut zu dem, was die deutschen Kanuten in Rio erlebt haben. Trotz des glorreichen Ergebnisses überschattet natürlich der Tod des Slalomtrainers Stefan Henze diese zwei Wochen. "Dieses Auf und Ab war fast nicht zu ertragen", räumte auch der mal jauchzende, mal nachdenkliche Verbandschef Thomas Konietzko ein. Sie haben es aber ertragen. Und zwar mit Würde. Und das ist vielleicht ihr größter Sieg.

© SZ vom 21.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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