Glosse:Lonzen und Löws Laterne

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(Foto: SZ)

In einer WM-Vorrunde schlägt die Urteilskraft, wie in der Jugend, die irrsten Kapriolen. Man weiß oft nicht, wo oben und wo unten ist. Und manchmal wird etwas Geschichte, von dem es keiner ahnte.

Von Dirk Gieselmann

WM-Vorrunden sind wie die Jugendjahre eines Menschen: Man sieht Verzweiflung und Hoffnung, Euphorie und Lethargie dicht beisammen, und erst in der Rückschau, wenn der Zyklus abgeschlossen ist, kann man sie vollends deuten. Wer als strahlende Gestalt in die Geschichte eingehen wird, wer als Fußnote, wer überhaupt nicht, das ist nach nur 20 Lebensjahren beziehungsweise drei Gruppenspielen längst nicht abzusehen.

Eltern wissen das. Und Leute, die mehr als zwei Weltmeisterschaften erlebt haben, die wissen es auch.

So sortierte das Achtelfinale immer wieder Mannschaften aus, die in den ersten Spielen für Furore gesorgt hatten. Denken wir nur an die Dänen 1986, die Nigerianer 1994 oder Chile 2014. Ihr kurzer Traum vom Titel weht als dünne Rauchwolke durch vergangene Jahre. Das nur als leise Warnung an England, Kroatien und Belgien.

Zugleich können strauchelnde Helden, haben sie die Gruppenphase überstanden, sich im weiteren Verlauf zu wahrer Größe erheben. Ja, erst durch die Erfahrung von Schrecken und Schauder der Vorrunde wird ihr Weg durch die WM zu einem Drama, wie es die Zuschauer lieben. Katharsis, so nennen es die Deutschlehrer. Erst mal reinkommen ins Turnier, so nennen es die Fußballexperten.

Was die WM 2006 noch für ihn bereit hielt, das ahnte nicht einmal Zinédine Zidane, der sonst doch alles ahnte, den Weg des Balls, die dürren Gedanken der Manndecker, die unmittelbare Zukunft. Doch an diesem 18. Juni 2006, im zweiten Gruppenspiel Frankreichs gegen Südkorea in Leipzig, war seine Intuition getrübt von der normativen Kraft des Faktischen. Tatsache war: In der 85. Minute sah er seine zweite gelbe Karte des Turniers und war für die entscheidende Partie gegen Togo gesperrt. Nun hatte er bereits vor dem Turnier erklärt, dass er danach seine Karriere beenden würde. Plötzlich schien es so, dass Zizou, die weiße Katze, das Genie seiner Generation, mit einem müden 1:1 gegen Südkorea abtreten müsste. Ohne ihn schien Togo, es war ja schließlich die Vorrunde, ein geradezu unbezwingbarer Gegner.

Zidane also schritt zum letzten Mal, wie er in diesem Augenblick annahm, vom Platz, durch die Katakomben, gefangen im stillen, apokalyptische Zorn auf den Schiedsrichter, die quirligen Südkoreaner, sich selbst und die Endlichkeit des Seins. Wer ihn kannte, wusste, dass er des Todes sein würde, hätte er den Versuch gewagt, ihn aufzumuntern. Auch die Kabinentür wollte ihm ausweichen, doch es war zu spät. Zinédine Zidane, der große Schöpfer und Zerstörer des Weltfußballs, trat sie mit den Stollen voran kaputt. Und lange hallte der Knall wider in den Fluren des Leipziger Zentralstadions, wie ein Donner aus der Zukunft.

Es ist Winfried Lonzen zu verdanken, dass uns dieser Stollenabdruck erhalten geblieben ist. Der Leipziger Stadionmanager, offenbar ein Mann mit Sinn für Geschichte, ließ ihn golden einrahmen. Und so kann man ihn noch heute betrachten, den Moment des unbändigen Zorns, eingefroren in der Zeit wie der Tintenfleck in der Lutherstube der Wartburg.

Was sagt uns nun dieses Mahnmal an der Kabinentür, gerade heute, vor dem dritten Gruppenspiel?

Erstens: In einer WM-Vorrunde schlägt die Urteilskraft, wie in der Jugend, die irrsten Kapriolen. Man weiß oft nicht, wo oben und wo unten ist. Zweitens: Es ist nicht vorbei, bevor es vorbei ist. Zidane drang bekanntlich bis ins Finale vor und bewies der Welt, dass er längst nicht fertig war mit seinem Zorn. Drittens: Jemand sollte schleunigst die Laterne am Strand von Sotschi unter Denkmalschutz stellen, an der Jogi Löw so gern lehnt. Vielleicht wird sie eines Tages von historischer Wichtigkeit sein.

Und viertens: Gegen Südkorea spielen auch die Allergrößten manchmal nur 1:1. Aber das ist ein eher lästiger Gedanke. Reden wir lieber nicht weiter darüber.

© SZ vom 27.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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